Über drei Monate lang prägten Barrikaden das Bild vieler Straßen und Städte. Foto: VOA. Public Domain

Hunderte Tote und Verschwundene, Tausende Verletzte, eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Nach Jahren relativer Ruhe und wirtschaftlichen Aufschwungs wird Nicaragua seit April 2018 von schweren Unruhen erschüttert. Die Gründe sind vielfältig, liegen aber vor allem im autokratischen Regierungssystem von Präsident Daniel Ortega. Der versucht, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Vorübergehend mit Erfolg, doch der Preis ist sehr hoch. Auch für die Solidaritätsbewegung stellen sich neue Herausforderungen.

In Nicaragua ist seit dem 19. April nichts mehr wie es war. An diesem Tag schlugen Antiterroreinheiten der Polizei und regierungsnahe Paramilitärs mit brutalen Mitteln eine kleine Demonstration vor allem von Student*innen gegen die angekündigte Erhöhung der Rentenbeiträge und die Kürzung der Renten nieder. Die ersten Toten waren zu beklagen, eine so noch nie dagewesene Protestbewegung gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega und seiner Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo entstand.

Die Wut und die Stärke, die diese Bewegung in kürzester Zeit erreichte, ist nur aus dem Frust über die langjährigen alltäglichen Manipulationen, die selektive Repression, die Begünstigungsnetze und fehlende politische Partizipationsmöglichkeiten zu verstehen. Gerade die Gewalt von Polizei, Heckenschützen und schwer bewaffneten paramilitärischen Kräfte gegen anfangs friedliche Proteste, brachte andere soziale Gruppen wie die Feministinnen, die Umweltbewegung und die bäuerliche Anti-Kanalbewegung dazu, sich den protestierenden Student*innen anzuschließen. Mehrere große Demonstrationen sowie ein Generalstreik folgten, über drei Monate hinweg standen an den Ausfallstraßen vieler Städte und Stadtteile flexible Barrikaden.

Auch die katholische Kirche und der Unternehmerverband COSEP, in den letzten Jahren treue Alliierte der Regierung der FSLN („Sandinistische Front der Nationalen Befreiung“), forderten Meinungsfreiheit und ein Ende der Repression. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH registrierte bis 8. August 317 Tote (zuzüglich nach Angaben der nicaraguanischen Menschenrechtsorganisation ANPDH 2.800 Verwundeten und 700 Verschwundenen).

Die wichtigsten Forderungen der in der „Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia“ (Zivile Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie) zusammengeschlossenen Organisationen und Bewegungen sind die nach einer regierungsunabhängigen Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verantwortlichkeiten für die Toten, Verletzten, Entführten und Gefangenen, nach dem Ende der Repression, dem Abtritt der Regierung Ortega-Murillo und der Bildung einer breiten Übergangsregierung sowie eines Nationalen Dialogs unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung.

Der im Mai durch die katholische Kirche moderierte Nationale Dialog wurde nach wenigen Sitzungen ergebnislos abgebrochen, da die Regierung kategorisch darauf besteht, bis zum Ende ihrer Amtszeit 2021 weiterzumachen und die katholische Kirche beschuldigt, Teil der Opposition zu sein.

Der Umfang und die Heftigkeit der Proteste hat manche Beobachter*innen überrascht: Allerdings sind sie genau so wenig neu wie die Regierung links. Daniel Ortega und Rosario Murillo präsentieren sich als Garant einer Revolution, die gerade stattgefunden habe und führen einen scheinbar linksprogressiven Diskurs. Zugleich treten sie die demokratischen Rechte mit Füßen und plündern im Bündnis auch mit internationalen Konzernen die Bodenschätze und natürlichen Ressourcen des Landes, schließen gesellschaftliche Gruppen von der Teilhabe am Dialog über die Zukunft des Landes aus und gehen gewaltsam gegen all jene vor, die sich dem Regierungskurs widersetzen.

Die grundlegende Kritik an der konservativen Sozialpolitik, der kapitalistischen Wirtschaftspolitik sowie dem autoritären Demokratieverständnis der Regierung wird durch zahlreiche Ereignisse seit Anfang der 90er Jahre unterfüttert. Diese reichen von der sogenannten piñata, mit der sich sandinistische Kader nach der Abwahl der FSLN 1990 Teile des Staatseigentums sicherten über den Pakt mit der katholischen Kirchenhierarchie um den früheren Kardinal Obando y Bravo (zulasten der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen) bis hin zu einer die Gesellschaft spaltenden klientelistischen Sozialpolitik, die hauptsächlich durch Zuwendungen aus Venezuela finanziert, parteilich kontrolliert und höchst intransparent über „sandinistische Unternehmen“ kanalisiert wurde.

Die Solidaritätsbewegung und ihre Partnerorganisationen heute
Die traditionelle Solidaritätsbewegung, wie das Informationsbüro Nicaragua in Wuppertal, ist aus der Unterstützung der sandinistischen Revolution 1979 entstanden. In der Aufbauphase der Revolution war die Solidarität mit dem nicaraguanischen Volk weitgehend deckungsgleich mit der Unterstützung der FSLN und später der Regierungspartei. Diese schien uns Garant für die Fortentwicklung der Revolution zu sein. Wir engagierten uns in Aufbaubrigaden und skandalisierten die Hintermänner des Contra-Kriegs. Heute, 40 Jahre nach dem Sturz der Somoza-Diktatur, sind viele Aktive von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen aus dem Sandinismus hervorgegangen und versuchen, die Errungenschaften der sandinistischen Revolution gegen die aktuelle Regierung zu verteidigen.

Auch wir vom Informationsbüro Nicaragua messen die nicaraguanische Regierung an den spezifischen Ansprüchen, Utopien und Projektionen der 1980er Jahre. Seit den 1990er Jahren sind unsere Partnerorganisationen aber Basisbewegungen, mit denen wir Ziele und Wertvorstellungen aus der sandinistischen Revolution teilen: Das sind Frauenorganisationen, die gegen patriarchale Geschlechterverhältnisse, repressive Sexualpolitik und die Straflosigkeit bei Gewalt gegen Frauen auf die Straße gehen. Oder Kleinbauernvereinigungen oder Umweltorganisationen, die seit Jahren eine nachhaltige Wirtschaftspolitik fordern.

Ein weiterer Partner des Infobüros ist das Movimiento Comunal, das die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft fördert. Als kommunitäre Bewegung nimmt es das Gesetz zur Bürgerbeteiligung ernst und etabliert in ländlichen Regionen und marginalisierten Vierteln basisdemokratische Prozesse politischer Bildung.
Um demokratische Freiheiten und Rechte zu garantieren, braucht es unabhängige professionelle, verfassungsmäßig und korruptionsfrei arbeitende Staatsorgane, worauf das Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (CENIDH) seit langem in seiner Menschenrechtsarbeit hinweist.

Wer auch immer die Regierung in den letzten Jahren kritisierte, musste mit Repression und Stigmatisierung rechnen. Heute haben die Student*innen die Anliegen der Frauenbewegung, der Bauern und Bäuerinnen, der Antikanal- und Umweltbewegung zu Anliegen der Mehrheit gemacht, wie es sich Fernando Cardenal, Erziehungsminister von 1984-1990 und Organisator der großen nationalen Alphabetisierungskampagne 1980 bereits vor zehn Jahren wünschte: „Ich hoffe, dass die Jugend auf die Straße zurückkehrt und Geschichte schreibt.“

Perspektiven der Bewegung
Wie wird es weitergehen? Seit Juli setzt die Regierung auf eine militärische Beendigung des Konflikts: Mit schweren Räumfahrzeugen und unter Einsatz von Heckenschützen und Paramilitärs hat sie Stadt für Stadt alle Barrikaden geräumt. Vertreter*innen der „sandinistischen Bürgermacht“ gehen mit Listen durch die Stadtteile und nehmen Missliebige mit. Bekannte Vertreter*innen der Opposition wie Medardo Mairena von der Anti-Kanalbewegung, der Ökonom Oscar René Vargas, Sandra Ramos von der Frauengewerkschaft der Textilindustrie (MEC) oder die frühere FSLN-Kommandantin und spätere Gründerin der Bewegung zur Erneuerung des Sandinismus (MRS) Dora María Tellez wurden festgenommen oder mussten abtauchen, um ihrer Festnahme zu entgehen.

Mehreren Dutzend Ärzt*innen, die die Proteste unterstützten oder in staatlichen Krankenhäusern Verletzte behandelten, wurde gekündigt. Über den Vatikan versucht die Regierung Druck auf die katholischen Bischöfe auszuüben, ihre Solidarität mit den Bauern im Süden aufzugeben. Universitäten wie die UCA werden zeitweise geschlossen. Unter dem Motto „Gerechtigkeit für die 197 Opfer des Putschterrorismus“ wurden in einer regierungsfreundlichen Demonstration am 11. August die Täter zu Opfern gemacht. Sicher hat es auf die erste staatliche Repressionswelle auch bewaffnete Überfälle auf Polizeistationen und Parteibüros gegeben, die waren aber zahlenmäßig überhaupt nicht zu vergleichen mit der Repression gegen die Protestierenden und zudem Folge und nicht Ursache der Auseinandersetzungen.

Momentan sieht es so aus, dass Ortega und Murillo ihre Herrschaft mit repressiven Mitteln stabilisieren und in ihrem Sinne befrieden können. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission spricht von der dritten Phase der Repression, der „Kriminalisierung der Protestierenden“. Die UN-Menschenrechtskommission macht die Regierung verantwortlich für „Morde, außergerichtliche Hinrichtungen, Misshandlungen, Folter und willkürliche Freiheitsberaubungen“. Anfang August hat die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) eine Sonderarbeitsgruppe für die Krise in Nicaragua mit dem Ziel eingerichtet, „den nationalen Dialog und die Suche nach friedlichen und nachhaltigen Lösungen“ zu unterstützen. Allerdings wird ihr die Einreise nach Nicaragua verweigert.

Ob das Präsidentenpaar damit langfristig überlebt, hängt auch davon ab, ob es die Unternehmer wieder auf seine Seite ziehen kann. Weitere Ex-Comandantes der FSLN wie der ehemalige Militärchef Humberto Ortega und der Ex Agrarminister Jaime Wheelock stellten in aktuellen Interviews klar, dass die Proteste legitim und keine Verschwörung der USA seien und viele Sandinisten daran beteiligt waren, und forderten die Auflösung der Paramilitärs. Das Militär verhält sich verfassungsgemäß neutral, wird aber zunehmend von gesellschaftlichen Gruppen (z.B. Frauenbewegung) aufgefordert, sein Waffenmonopol gegen die bewaffneten Gruppen durchzusetzen.

Mehr als 23.000 Menschen haben seit April 2018 in Costa Rica Zuflucht gesucht, etwa 200 täglich, weil sie in Nicaragua bedroht sind. Nur mit Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie sie Vilma Nuñez, Präsidentin der Menschenrechtskommission CENIDH, bereits lange fordert, und nach Entwaffnung der Paramilitärs wird ein friedliches Zusammenleben ohne wechselseitige Rache möglich sein. Überhaupt müssen in einer Phase des Übergangs beiden Seiten Sicherheitsgarantien gewährt werden.

In der aktuellen Pattsituation muss es für die Linke darum gehen, die nicaraguanische Zivilgesellschaft als „soziale Gewebe“ (Monica Baltodano, ehemalige sandinistische Guerillera und Abgeordnete) wieder neu zu organisieren. Ob der organisierte Sandinismus in Form der FSLN noch eine Zukunft hat, wird davon abhängen, ob es ihm gelingt, personelle und inhaltliche Alternativen zu entwickeln, sich von der Regierungsfamilie zu befreien und das Bündnis mit der Zivilgesellschaft neu herzustellen.

Für die Solidaritätsbewegung stellen sich neue Aufgaben: Menschenrechtsarbeit, Unterstützung politisch Verfolgter, Rechtshilfe. In vielen deutschen Städten haben nicaraguanische Studierende örtliche Komitees unter dem Namen SOSNicaragua gegründet, die mit der traditionellen Solidaritätsbewegung und linken Sektoren in Deutschland zusammenzuarbeiten wollen. So teilen wir die Forderung, dass demokratische Freiheiten Hand in Hand gehen müssen mit sozialer Gerechtigkeit.

Einige linke Intellektuelle wie Raúl Zibechi aus Uruguay halten es für eine zweite Chance, „dass die lateinamerikanische Linke sich von all ihren ‚Irrtümern‘ befreit“ und rufen dazu auf, „das Massaker, das Daniel Ortega und Rosario Murillo an ihrem eigenen Volk verüben“, zu stoppen. Es sei absurd, den Imperialismus für die eigenen Verbrechen verantwortlich zu machen.

Zum Autor

Klaus Heß ist Diplom-Informatiker und hat sich bereits vor dem Sturz des Somoza-Regimes für die FSLN engagiert. Seit 1983 ist er im Informationsbüro Nicaragua aktiv.

Klaus Heß ist Diplom-Informatiker und hat sich bereits vor dem Sturz des Somoza-Regimes für die FSLN engagiert. Seit 1983 ist er im Informationsbüro Nicaragua aktiv.

Abo

Abonnieren Sie den Südlink

Im Südlink können Autor*innen aus dem Globalen Süden ihre Perspektiven in aktuelle Debatten einbringen. Stärken Sie ihnen den Rücken mit Ihrem Abo: 4 Ausgaben für nur 18 Euro!

Der Südlink ist das Nord-Süd Magazin von INKOTA. Eine Übersicht über das Südlink-Magazin finden Sie hier.

Südlink Magazin

Ihre Spende hilft!

INKOTA-Spendenkonto
IBAN DE 06 3506 0190 1555 0000 10
BIC GENODED1DKD

Hier können Sie für ein Projekt Ihrer Wahl oder zweckungebunden spenden: