„Bis diese Vision Wirklichkeit wird“
Interview mit Natasha A. Kelly über die Utopie des Afrofuturismus und dessen Neuauflage in der heutigen, digitalen Zeit
Die Utopie des Afrofuturismus gibt es bereits seit dem 19. Jahrhundert. Die Vision, dass Schwarze in einer Welt ohne Rassismus leben können, entstand in den USA in der Schwarzen Community und hat sich seither über die ganze Welt verbreitet. Mit dem Einzug neuer, digitaler Medien sowie der #Black-Lives-Matter Bewegung oder dem Hollywood-Blockbuster „Black Panther“ erfährt diese Vision nun eine Neuauflage als Afrofuturismus 2.0.
Frau Kelly, was genau ist denn Afrofuturismus?
Afrofuturismus ist eine künstlerische, intellektuelle und sozialpolitische Bewegung, die durch fiktive Erzählungen aus einer afrozentrischen Perspektive alternative Realitäten entwirft. Darin stehen Schwarze Menschen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Afrofuturismus verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um die Traumata von Kolonialisierung und Versklavung zu verarbeiten und neue Zukunftsvisionen zu kreieren. Diese neue, utopische Welt beruht auf Selbstbestimmung der Schwarzen. In diesen oft hochtechnologischen Szenarien wird die Vorherrschaft eurozentrischer Narrative hinterfragt und Platz für vielfältigere, inklusivere Erzählungen geschaffen.
Wie entstand die Idee vom Afrofuturismus und wo und wie hat sie sich verbreitet?
Die Idee des Afrofuturismus ist so alt wie die Geschichte der Versklavung selbst. Sie wurzelt in den Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung von Schwarzen Menschen. Mitte des 19. Jahrhunderts griff der Schwarze US-amerikanische Abolitionist, Journalist und Arzt Martin Delany in seinem Roman „Blake; or The Huts of America“ das Motiv einer selbstbestimmten Zukunft Schwarzer Menschen auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten dann Schwarze Intellektuelle wie W.E.B. Du Bois diese Idee weiter. Der Begriff selbst wurde jedoch erst 1994 durch den weißen US-amerikanischen Kulturkritiker Mark Dery geprägt, als er afrofuturistische Ideen im Kontext von Science-Fiction und Technologie untersuchte. Seitdem hat sich Afrofuturismus weltweit verbreitet und ist zu einer globalen Bewegung geworden. Darin spielen vor allem Schwarze Identitäten und Kulturen in futuristischen, technologischen und kulturellen Kontexten eine zentrale Rolle.
Können Sie uns einige ihrer Lieblingsbeispiele von Afrofuturismus in Kunst, Kultur, Film oder Comics/Geschichten nennen?
In den letzten Jahren habe ich mich intensiv mit den künstlerischen und intellektuellen Werken von W.E.B. Du Bois auseinandergesetzt. Der US-amerikanische Philosoph, Autor und Journalist gilt als einer der Pioniere des Afrofuturismus. Seine Kurzgeschichte „The Comet“ spiegelt frühe afrofuturistische Ideen wider, indem sie spekulative Fiktion nutzt, um die zukünftige Rolle Schwarzer Menschen zu erforschen. Diese Erzählung diente als Inspiration für ein dreitägiges Symposium, das ich 2018 am HAU Hebbel am Ufer Theater in Berlin kuratiert habe. Sämtliche Vorträge wurden 2020 als Buch im Orlanda Verlag veröffentlicht und ein Jahr später von der Bundeszentrale für politische Bildung neuaufgelegt. Das hat auch das wachsende Interesse an diesem Genre gezeigt.
Welche guten Beispiele von Afrofuturismus in Deutschland gibt es?
In Deutschland gab es schon sehr früh afrofuturistische Ideen. Ein Beispiel dafür ist Anton Wilhelm Amo, der erste Schwarze Philosoph in Deutschland, der bereits im 18. Jahrhundert Schwarze Menschen in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeiten stellte. Sie waren die eigentlichen Helden, die für ihre Rechte und mehr Selbstbestimmung kämpften. In jüngster Zeit sehen wir eine wachsende Szene von Künstler*innen, Musiker*innen, Aktivist*innen und Autor*innen, die afrofuturistische Elemente in ihre Werke integrieren. Dazu gehören Olivia Wenzels „Mais in Deutschland und anderen Galaxien“ (2015) oder Simone Dede Ayivis „First Black Woman in Space“ (2017). Beide Theaterstücke thematisieren aus Schwarzer deutscher Perspektive, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, die Erfahrungen und Zukunftsperspektiven von Schwarzen Menschen in der Diaspora.
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Hier Fördermitglied werdenGibt es diesen Afrofuturismus auch in Afrika selbst?
Ja! Während der Afrofuturismus die Erfahrungen von Menschen in der afrikanischen Diaspora in den Vordergrund stellt, fokussieren „Africanfuturism“ und „African Futurism“ explizit afrikanische Perspektiven. Beide setzen sich auf verschiedene Weisen mit den kulturellen, sozialen und historischen Herausforderungen Afrikas auseinander. Das Konzept „Africanfuturism“ wurde 2019 von der nigerianisch-US-amerikanischen Autorin Nnedi Okorafor als Antwort auf die Diaspora-zentrierte Natur des Afrofuturismus definiert. Anstatt sich ausschließlich auf eine globale Diaspora zu konzentrieren, geht es in ihren Werken darum, die soziopolitischen, kulturellen und historischen Beziehungen zwischen Afrika und der afrikanischen Diaspora über Zukunftsvisionen zu erkunden. Der Begriff „African Futurism“ wurde von Pamela Sunstrum geprägt. Die botswanische Künstlerin konzentriert sich auf die kulturelle Selbstbestimmung Afrikas und die Fähigkeit der Afrikaner*innen, sowohl globale als auch lokale Zukunftsvisionen mitzugestalten.
Gibt es auch ein Konzept des feministischen Afrofuturismus?
Dafür ist Janelle Monáe ein gutes Beispiel. Sie ist eine US-amerikanische Soul- und Funk-Sängerin, aber auch Schauspielerin und Tänzerin. In ihrer Musik und ihren visuellen Werken, insbesondere im Album und Filmprojekt „Dirty Computer“, greift sie intersektionale Themen auf. In einer dystopischen Welt kämpft ihre Figur gegen die Unterdrückung von Individualität, die durch eine autoritäre Gesellschaft auf Grundlage von Rasse, Geschlecht und Sexualität durchgesetzt wird. Ihr Werk betont die Rolle der Selbstbestimmung und Befreiung Schwarzer queerer Frauen und feiert die Vielfalt Schwarzer Identitäten in einer futuristischen Umgebung.
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jetzt lesenWas ist dann Afrofuturismus 2.0 und welche Rolle spielen darin die digitalen Medien?
Beeinflusst durch die sozialen Medien hat sich der Afrofuturismus unaufhörlich zu einer 2.0-Version weiterentwickelt und kontinuierlich vergrößert. Heute wird er als ein ganzheitlicher Ansatz verstanden, der sich nicht nur auf Literatur und Musik beschränkt, sondern sich auch in Film, Kunst, Architektur und Mode manifestiert. Ebenso sind philosophische und soziale Bewegungen vom Afrofuturismus geprägt. Das ist auch der Grund, weshalb der Afrofuturismus transnational gedacht wird und sich dem Panafrikanismus verpflichtet sieht.
Welche Rolle spielt #Black-Lives-Matter?
Die Forderung von Black-Lives-Matter, die Polizei abzuschaffen (Defund the Police), ist eine afrofuturistische Vision, auch wenn dies oft nicht als solche erkannt wurde. Diese Forderung zielt auf die Schaffung einer neuen Gesellschaftsform ab und beinhaltet die afrofuturistische Vision, in der Schwarze Menschen frei von staatlichen Repressionen leben können. Da die Wurzeln der Polizei in der Geschichte der Versklavung liegen, repräsentiert diese Institution eine von vielen kolonialen Kontinuitäten, die dekonsturiert werden müssen.
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Zur GeschenkspendeDurch den Hollywood-Film „Black Panther“ wurde der Afrofuturismus weltweit bekannt – auch in Afrika selbst hat er viele inspiriert. Wie wichtig ist es, dass diese Botschaft auch in anderen Kulturen verbreitet wird?
Die Botschaft des Afrofuturismus, die durch „Black Panther“ weltweit verbreitet wurde, ist von zentraler Bedeutung für den Kampf gegen Rassismus und die Dekolonialisierung auf globaler Ebene. Er bietet eine neue Perspektive auf Schwarze Identitäten und Zukünfte. Denn er löst sich von den herkömmlichen westlichen Narrativen und entwirft alternative, ermächtigende Realitäten. Diese neuen Erzählungen tragen zur Rassismusbekämpfung bei, indem sie stereotype Darstellungen aufbrechen und marginalisierten Gruppen eine positive Sicht auf sich selbst und ihre Zukunft ermöglichen. Der Afrofuturismus zeigt, dass es möglich ist, die Vergangenheit zu heilen und eine Zukunft zu entwerfen, die frei von den Fesseln des Kolonialismus und der Unterdrückung ist – nicht nur für Schwarze Menschen, sondern für alle marginalisierten Gemeinschaften weltweit.
Wie sieht Ihre ganz persönliche Utopie der Zukunft aus?
Meine Vision für die Zukunft ist weniger utopisch und vielmehr realistisch. Ich erinnere mich gern an den britischen Philosophen und Autor Francis Bacon, der im 16. Jahrhundert in seinem utopischen Roman „New Atlantis“ die fiktive Insel Bensalem im Pazifischen Ozean beschrieb. Damals hielten seine Leser*innen es für unwahrscheinlich, dass eine Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Fortschritt und der systematischen Erkundung der Natur basiert, Wirklichkeit werden könnte. Doch seine Vision wurde wahr: Fast 40 Jahre später führten Bacons Ideen zur Gründung der Royal Society in England, die oft als reale Verkörperung seiner Vision von „Salomons Haus“ angesehen wird, einem fiktiven Ort in seinem Roman, an dem Wissenschaftler*innen Experimente durchführen, Wissen sammeln und anwenden, um die Gesellschaft zu verbessern. In meiner Kurzgeschichte „Juliana“ ist meine Protagonistin Studentin einer Black Studies Institution, wo Wissen gesammelt wird, damit Schwarze Menschen selbstbestimmt leben können. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Vision Wirklichkeit wird. Anders aber als die Royal Society, die den Kolonialismus stärkte, wird dieses Institut zur weltweiten Befreiung Schwarzer Menschen beitragen.
Das Interview führte Simone Schlindwein.
Natasha A. Kelly ist Gastprofessorin für Kulturwissenschaften an der Universität der Künste Berlin sowie Autorin und Herausgeberin, Künstlerin, Kuratorin und Mitbegründerin des globalen afrofuturistischen Netzwerkes BSAM (Black Speculative Arts Movement). Sie hat im Jahr 2020 das Buch „The Comet – Afrofuturism 2.0“ herausgegeben.
Bild: Raph_PH Glasto2023 (352 of 468) (CC BY 2.0)