Südlink-Magazin

Die Schuld der eigenen Befreiung

Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich kam Haiti teuer zu stehen. 125 Jahre lang bezahlte es illegitime Schulden, die seine eigenständige Entwicklung verhinderten

von Katja Maurer
Veröffentlicht 16. DEZEMBER 2021

Aus den Versprechen der Französischen Revolution leiteten die Unterdrückten der karibischen Kolonie Saint-Domingue das Recht auf Befreiung ab. Nach einem langen Kampf entstand 1804 ein eigener Staat. Von Beginn an aber musste sich Haiti gegen die Aggressionen europäischer Kolonialmächte und der USA erwehren. Erst militärisch und dann auch noch wirtschaftlich machten sie Haiti zum ersten postkolonialen Schuldnerstaat, ein Zustand, der bis heute anhält. 

Das erste Land, das sich nach dem Siegeszug des Kolonialismus in Lateinamerika und in der Karibik von ebendiesem befreite, war Haiti. Dieser mehr als symbolische Akt begann mit der von Versklavten errungenen Unabhängigkeit 1804, die die Französische Revolution überhaupt erst zu einem universellen Ereignis werden ließ. Zudem erfolgte die Befreiung auf einem Territorium, das die Hälfte der einst Saint-Domingue genannten Insel ausmacht, also einem Stück Land, das mit dem Eintritt von Kolumbus in die Weltgeschichte den Beginn der Kolonisierung der Amerikas bedeutet.

Dieser Kolonisierungsprozess schaffte die Voraussetzungen für die weltweite kapitalistische Entwicklung, die, wie der Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Schulden“ zeigt, in seiner Dynamik untrennbar mit Krediten und Zinsen, und somit Schulden und dem Zwang, diese zu begleichen, verbunden ist. Beispielhaft dafür ist, welche Bedeutung die Verschuldung Haitis für die gescheiterte postkoloniale Entwicklung des Landes besitzt.

Haiti – der Name geht auf die Urbevölkerung, die Tainos zurück, die gänzlich durch Plantagenarbeit ausgerottet wurde – war lange Zeit die wichtigste Kolonie Frankreichs. Sie lieferte bis zu 60 Prozent des Zuckers, den Europa damals verbrauchte, und galt als Perle der Karibik. Diese Bezeichnung verschleiert die ungeheure Ausbeutung der Plantagenarbeiter*innen, die nicht anders als Vernichtung durch Arbeit bezeichnet werden kann. Nach der Vernichtung der Tainos gingen seit dem späten 17. Jahrhundert Generationen von Versklavten aus Afrika an der Plantagenarbeit zugrunde. Die Revolutionär*innen von 1804 waren zum großen Teil noch in Afrika in Freiheit geboren und hatten ihre eigene Versklavung erlebt.

Das magische Wirkliche trat ein

Aufstände waren zu der Zeit in der Karibik an der Tagesordnung. Das Ausbeutungssystem war überall ähnlich. Aber in Haiti trat die Französische Revolution hinzu, von der ehemalige Versklavte, die von ihren „Besitzern“ in Freiheit entlassen wurden und die zum Teil in Frankreich studierten, erfuhren und deren Ideen weiter verbreiteten. Der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier spricht in seinem kurzen Roman über die haitianische Revolution „Das Reich von dieser Welt“ („El reino de este mundo“) vom „magischen Wirklichen“, das eintrat, ohne dass es vorherzusehen war. 

Dass die Kolonialmächte diesen Sieg der Versklavten auf alle erdenkliche Weise bekämpfen mussten, liegt auf der Hand. Dieses Beispiel durfte nicht Schule machen. Die Versuche Frankreichs durch erneute militärische Interventionen, die Kolonie zurückzugewinnen, erwiesen sich als kostspielig und scheiterten. Die inneren Verwerfungen unter den Revolutionär*innen zeigten schon früh an, dass die Befreiung nicht mit Freiheit gleichzusetzen war. Während einige davon träumten das blühende Geschäft mit den Plantagen fortzusetzen und nun selbst davon zu profitieren, strebten die, die ihre alte Freiheit zurückgewonnen hatten, danach, ihre Lebens- und Wirtschaftsweise wieder aufzunehmen, die sie noch selbst erlebt hatten. Auf die Plantagen und zu deren tödlichen Arbeitsbedingungen wollten sie auf keinen Fall zurückkehren. Dieser innere Konflikt spielt sich noch heute untergründig ab.

Wenn die Moderne ein Projekt der Freiheit, der Demokratie und Autonomie war, dann besaß sie die Zustimmung der meisten Revolutionär*innen, wenn aber die Moderne eine kapitalistische Modernisierung sein sollte, die in Haiti nur eine Fortsetzung der Sklavenarbeit auf den Plantagen mit anderen Mitteln bedeutete, war und ist sie höchst umstritten. Das heißt aber nicht, dass das Gemeinsame, nämlich die Abschaffung der Sklaverei als Grundidee verlorengegangen war. Es gab sehr interessante verfassungsgebende Prozesse in Haiti. Lateinamerikanische Unabhängigkeitskämpfer wie Simon Bolivar fanden Exil in Haiti. Und als die Haitianer den anderen Inselteil, die Dominikanische Republik, besetzten, schafften sie als erstes die Sklaverei ab. Beides kann ihnen die weiße dominikanische Elite bis heute nicht verzeihen.

Die Befreiung musste teuer bezahlt werden

Da der Aufstandsgeist aus der Flasche war, verlor Frankreich das Interesse an der Wiedereroberung Haitis. Es galt aber dafür zu sorgen, dass das Beispiel nicht Schule machte. Die haitianische Oberschicht wollte zugleich wieder am Welthandel teilhaben, die USA und die Kolonialmächte hatten ein Embargo gegen Haiti verhängt, und so kam es 1825 schlussendlich zu einer Vereinbarung zwischen dem damaligen haitianischen Präsidenten Jean-Pierre Boyer und dem französischen König Charles X.

Frankreich verlangte in dem Abkommen nicht nur Entschädigung für verlorenen Besitz, sondern rechnete auch die Versklavten und ihre Arbeit in die Verlustrechnung gegenüber dem haitianischen Staat ein. 150 Millionen Gold-Francs sollte Haiti an Frankreich zahlen, das 300-fache des haitianischen Staatseinkommens. Allein die jährlich anfallenden Zinsen machten 15 Prozent des Sozialprodukts aus, ohne dass die Schuldentilgung eingesetzt hätte.

Der französische Ökonom Thomas Piketty schrieb in seinem 2020 erschienen Buch „Kapital und Ideologie“: „Haitis Fall besitzt Symbolwert, nicht nur, weil dort ein siegreicher Aufstand erstmals in der Neuzeit zu einer Abschaffung der Sklaverei geführt und eine schwarze Bevölkerung einer europäischen Macht ihre Unabhängigkeit abgetrotzt hat, sondern auch, weil diese Ereignisse in eine gigantische öffentliche Verschuldung mündeten, die in erheblichem Maß die Entwicklung Haitis in den nachfolgenden Jahren behinderten.“

Der französische Ökonom Simon Henochsberg stellt in seiner Studie „Öffentliche Schulden und Sklaverei: Der Fall von Haiti“ fest, dass es sehr wenige ökonomische Untersuchungen über die Ursache für Haitis Armut gibt, sondern meist politisch-kulturelle Argumente in der internationalen Beschäftigung mit dem „Fall Haiti“ eine Rolle spielen. Dabei musste schon die erste Rate, die kurz nach Vertragsabschluss fällig war, in Höhe von 30 Millionen Francs mit Krediten und überhöhten Zinsen durch eine französische Bank finanziert werden. Die Falle hatte da schon zugeschnappt.

Ein interessantes Detail am Rande ist, dass es keine Nachweise darüber gibt, ob mit den von Haiti bezahlten Geldern jemals ehemalige Kolonisten entschädigt wurden. Es ging von Anfang an darum, so Henochsberg, dass die französische Regierung über finanzielle Kanäle ihre Vorherrschaft über Haiti wieder herstellen wollte.

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Immer wieder gab es Momente, in denen ein Ende der Rückzahlung absehbar schien. Noch im 19. Jahrhundert war nur noch ein letzter Kredit zur Zahlung aufzubringen, um endlich Geld für die Entwicklung des eigenen Landes zu haben. Aber mit jedem neuen Kredit drehte sich die Schraube der Abhängigkeit vom Weltmarkt tiefer.

Weil die Zins- und Schuldzahlungen nur durch Exportzölle finanzierbar waren, musste Haiti seine Ökonomie sich auf den Export von Kaffee, Blauholz und anderen Naturprodukten ausrichten. Die ständigen äußeren militärischen Bedrohungen führten zudem zu hohen Budgetkosten für die Armee. Trotz der unbeständigen ökonomischen Lage, die sich in der Abhängigkeit von Weltmarktpreisen für die Exportprodukte ausdrückte, gelang es Haiti bis 1890 das Bevölkerungswachstum mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Einklang zu bringen. Die Ausgaben für Bildung, die zeitweise bis zu zwölf Prozent des Staatsbudgets ausmachten, zeigten das politische Interesse an einer Entwicklung und Modernisierung der haitianischen Gesellschaft auf.

Mit dem Sturz der Weltmarkpreise für Kaffee 1890 begann Haitis Niedergang. Um die Schulden weiter bedienen zu können, warf das Land seine Tropenhölzer auf den Weltmarkt. In kurzer Zeit verlor Haiti unwiederbringlich 90 Prozent seiner Waldbestände, mit dramatischen Folgen für die Landwirtschaft. Ein Erdbeben 1842 und Feuersbrünste, die die Hauptstadt zerstörten, taten ihr Übriges, um Projekte wie den Bau einer Eisenbahn und die Abkehr vom Extraktivismus vollends auf Eis zu legen.

Erst 1950 waren die Schulden abbezahlt, die 125 Jahre zuvor gegenüber Frankreich entstanden, aber längst von internationalen Banken übernommen worden waren. Auf eine 19-jährige Besatzung Haitis durch die USA (1915 – 1934) folgte nur ein kurzes Durchatmen. Schon 1957 kam François Duvalier an die Macht und errichtete eine fast 30-jährige Familien-Diktatur, die in der Hochphase des Kalten Krieges unbesehen günstige Kredite erhielt, die sie in die eigene Tasche wirtschaftete.
Von diesem immer neuen Schuldenkreislauf, der zudem als Nebeneffekt stets die Korruption in sich trägt, hat sich Haiti nie erholt. Und als der damalige Präsident Jean-Bertrand Aristide im Angesicht seines drohenden Machtverlustes 2004 die Forderung erhob, Frankreich müsse die zweifellos illegitimen Schulden aus dem Abkommen von 1825 zurückzahlen, wurde er in einer gemeinsamen Aktion der französischen und der US-amerikanischen Regierung abgesetzt.

Haiti geriet unter UN-Verwaltung, die im Grunde bis heute andauert. Die internationale Core-Group, ein Gremium der Geberländer unter Führung der USA, dem auch Frankreich, die UNO, Kanada, die EU und Deutschland angehören, entscheidet alles, was in der haitianischen Politik von Bedeutung ist. Das Haiti aufoktroyierte Verschuldungssystem hat in eine Katastrophe ungeheuerlichen Ausmaßes geführt.

Gangs beherrschen heute die wichtigsten Zugänge zur Hauptstadt und kontrollieren die Öl- und Benzinlieferungen, Entführungen und Morde sind Alltag geworden. Krankenhäuser schließen, weil sie keine Stromversorgung mehr haben, während abertausende Haitianer*innen auf der Suche nach einem würdigen Leben durch Lateinamerika ziehen. Haiti hat sich in eine dysfunktionale No-Go-Zone verwandelt, in die die Geschichte der illegitimen Schulden tief eingeschrieben ist. Die eigentliche Schuld Haitis, nämlich seine eigene Befreiung erreicht zu haben, soll es in dieser kapitalistischen organisierten Welt nicht abtragen können.

Katja Maurer ist Mitarbeiterin von medico international. Gemeinsam mit Andrea Pollmeier hat sie 2020 das Buch „Haitianische Renaissance – Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“ veröffentlicht, das sich mit den globalen Hintergründen der haitianischen Krise beschäftigt.

Katja Maurer ist Mitarbeiterin von medico international. Gemeinsam mit Andrea Pollmeier hat sie 2020 das Buch „Haitianische Renaissance – Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“ veröffentlicht, das sich mit den globalen Hintergründen der haitianischen Krise beschäftigt.

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