"Damit wir nicht die Wolken berühren"
Eine sehr persönliche Rezension von Deniz Yücels Buch „Agentterrorist“
Etwas mehr als ein Jahr war der deutsche Journalist Deniz Yücel 2017/2018 in der Türkei in Haft. In „Agentterrorist“ beschreibt er sein Jahr im Hochsicherheitsgefängnis Silivri und den politischen Kontext, der ihn dorthin gebracht hat. Gelesen für den Südlink hat das Buch Peter Steudtner, der, ebenfalls unter Terroranklage, zweieinhalb Monate im selben Block in Silivri verbracht hat wie Deniz Yücel.
Jetzt haben sie alle ihre Bücher geschrieben: Doğan Akhanlı, Can Dündar, Meşale Tolu und Deniz Yücel. Wie gut, dass ich kein Journalist oder Autor bin, sonst müsste ich mir die Fragen stellen: Wann ich? Bin ich schon zu spät? Aber ich habe Glück: War kürzer im Gefängnis als Deniz Yücel, wurde nicht physisch gefoltert. Und darf jetzt über sein Buch schreiben. Meine wichtigste Frage beim Lesen war: Finde ich mich darin wieder? Wir waren drei Reihen voneinander entfernt: Er in Reihe 6, ich in Reihe 3, mit 800 anderen im Block 9, dem Hochsicherheitstrakt in Silivri, der Gefängnisstadt siebzig Kilometer westlich von Istanbul.
Wir sind uns einige Male in meiner letzten Haftwoche Ende Oktober 2017 begegnet: Winkend durch die Glastrennwände, einmal rief er mir zu: „Du kommst bald frei, Peter!“ Auch wenn er mir später bei einem Treffen in Freiheit erzählte, dass er sich da gar nicht so sicher war: In dem Moment tat der Zuspruch sehr gut. „Agentterrorist“, das Buch von Deniz Yücel mit 400 Seiten über sein Haftjahr in der Türkei, ist wahrlich ein Brocken. Aber das sind seine Erfahrungen ja auch. Und, um es vorweg zu nehmen, die Lektüre lohnt sich. In Deniz‘ „ehrlichste Sprache wo gibt“ geschrieben, die wahrscheinlich nicht für alle ohne Holpern lesbar ist, hatte ich beim Lesen das Gefühl, ihm zuzuhören, ihm gegenüberzusitzen, bei seinem Erinnern dabei zu sein. Und sein Erinnern ist so detailliert wie seine Einordnung in aktuelle politische Entwicklungen vor und während seiner Haftzeit.
Auch historische Bezüge zu seinen krassen Erfahrungen kommen nicht zu kurz. Zum Beispiel wenn Deniz beschreibt, wie ihn Vollzugsbeamte zielgerichtet demütigen und bedrohen: „Als wir an einem Mülleimer vorbeikommen, holt er [ein Vollzugsbeamter] mich ein: ‚Ich werde dich den Mülleimer grüßen lassen‘, droht er. ‚Du wirst sagen: ‚Hallo, mein Bruder Müll.‘ Denn du bist auch Müll.‘ Es bleibt bei dieser Drohung, zum Versuch mich dazu zu nötigen, kommt es nicht. Auch so ist das ein weiterer Schock: Als Esat Oktay Yıldıran, der diabolische Kommandant des Foltergefängnisses Diyarbakir Nr. 5, in den Achtzigerjahren die Gefangenen zwang, seinem Schäferhund zu salutieren, war dieser Kerl noch nicht geboren, vermutlich weiß er nicht einmal, dass seine Drohung ein Zitat ist. Aber gerade darum ist diese Kontinuität des Bösen erschreckend.“
Die Tage der Folter, die Deniz beschreibt, sind auch für mich erschreckend. Diese Art von zielgerichteter Gewalt musste ich zum Glück nicht erleben. Zwar gab es Schubsereien und Grobheiten bei der „Aufnahme“ ins Gefängnis Maltepe (wo ich zwei Wochen inhaftiert war, bevor ich nach Silivri verlegt wurde), und auch danach reichlich Angebrülltwerden, aber das erlebte ich eher als „Aufnahmeritual“ und Klarstellung, wer hier – aus der Perspektive der Vollzugsbeamten – die Chefs sind. Unangenehm und bedrohlich, aber nicht zielgerichtet.
Die Anwält*innen waren enorm wichtig
Anders die Kommunikationseinschränkungen. Die sind trotz ihrer Unterschiedlichkeit ähnlich: Deniz war lange in Einzelisolationshaft, später durfte er einen Mitgefangenen tagsüber im gemeinsamen Zellenhof treffen. Ich war nur drei Tage in Einzelisolation, dann in Zweierisolation, was für mich sehr hilfreich war. Anders auch die Besuchsregelungen für unsere Anwält*innen: „Eine durch den Ausnahmezustand ermöglichte Maßnahme bleibt mir immerhin erspart: Im Gegensatz zu den Häftlingen, die in Verbindung mit der Gülen-Organisation gebracht werden […] kann ich ungestört meine Anwälte sprechen. Kein Aufseher am Tisch, keine Videokameras, keine Tonaufzeichnungen. Und nicht nur eine Stunde in der Woche, sondern so oft und so lange ich will. Theoretisch bis Mitternacht.“ Wir #Istanbul10 (Hashtag, der unsere Gruppe, die auf Büyükada 2017 verhaftet wurde, beschreibt) wurden mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht, am Ende sogar der Unterstützung von ihr und der PKK und auch der linksextremen DHKP-C angeklagt. So hatten wir nur eine Stunde pro Woche mit unseren Anwält*innen – nicht bis Mitternacht.
Die Unterstützung durch sein Anwaltsteam war für Deniz enorm wichtig, die Auswahl seiner Anwälte bezeichnet er als „ die beste Entscheidung, die ich in dieser ganzen Geschichte treffen werde.“ Und auch meine Entscheidung für unser vier- bis fünfköpfiges Anwaltsteam war goldrichtig. Anwält*innen haben in diesen Extremsituationen nicht nur die juristische Vertretung, sondern sind gleichzeitig Botschafter*innen zu den Angehörigen und der Solibewegung, müssen politische Entwicklungen und Medienberichte einschätzen und mitteilen. Bei Deniz wurde einer seiner Anwälte sogar zu seinem Trauzeugen im Gefängnis.
Großes Augenmerk legt Deniz auch auf die Beschreibung der Solidaritätsbewegungen in Deutschland: Soli-Lesungen, Buchveröffentlichungen, Preise, Auto-Korsos. Alles findet angemessenen Raum, nicht nur im Kapitel „Beste Kampagne wo gibt (und mieseste)“. Und er betont seine Dankbarkeit für diese verschiedenen Solidaritätsaktionen: Die seiner Freundeskreise in Berlin und Hamburg, wie auch die der Zeitungsredaktionen und auch von individuellen Kampagnen: „Langen Atem zeigen auch individuelle Kampagnen: taz-Redakteur Andreas Rüttenauer, der ein Jahr lang jeden Tag „Übrigens: #FreeDeniz“ twittert. Welt-Redakteurin Paula Leocadia Pleiss, die ein Jahr lang mit dem gleichen (nicht demselben) FreeDeniz-T-Shirt zur Arbeit fährt. Oder Marie Sophie Hingst, Bloggerin aus Dublin: Wir kennen uns nicht, und sie weiß, dass man mir Briefe vorenthält. Trotzdem schreibt sie mir jeden Tag eine Postkarte. [...] viel kommt von Leuten, die ich gar nicht kenne und denen ich ganz besonders dankbar bin.“ Da spricht er mir aus vollem Herzen.
An vielen Stellen des Buchs leuchten leicht lesbare Einführungen in die aktuelle türkische Politik und Geschichte auf: Der Konflikt des türkischen Staats gegen die kurdische Bevölkerung ebenso wie der Putschversuch 2016. Und Deniz zitiert reichlich aus anderen Büchern türkischer Autor*innen, die im Gefängnis geschrieben wurden. Diese Zitate geben dem Buch eine Kraft, nicht nur die individuellen Erfahrungen von Deniz zu reflektieren und wiederzugeben, sondern mehrere Generationen von Journalist*innen und Autor*innen einbeziehend eine Geschichte der politischen Haft zu sein: Gefängnisliteratur als politische Geschichtsschreibung.
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Die Direktheit ist eine Stärke des Buches
Deniz beschreibt eindrücklich, was für Auswirkungen die politische Gefangennahme auch außerhalb des Gefängnisses für die nächsten und weiteren Angehörigen hat. Deniz‘ Frau Dilek gibt ihre Stelle auf, um die ganzen Solidaritätsaktivitäten, Medienaktivitäten, politischen Kontakte etc. für ihn managen zu können! Als Deniz sich den Behörden stellt, sind sie gerade einmal acht Monate zusammen.
An dieser Stelle gibt es bei mir auch die einzigen Fragezeichen in dem Buch: Deniz wird in der Beschreibung seiner Beziehung zu Dilek, ihren Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen sehr intim, sodass ich den Wunsch verspürte, das eigentlich gar nicht lesen zu wollen, um die beiden zu schützen. Gleichzeitig ist diese Direktheit eine Stärke des Buches, und oft finde ich mich in seinen Beschreibungen wieder und denke: „Stimmt ja. Hatte ich schon vergessen.“ Nicht vergessen habe ich die Intensität der Geräusche, die allen (und fast immer plötzlichen) Aktivitäten im Gefängnis vorangehen: „In der Regel herrscht Einsamkeit – aber keine Stille. Das Gefängnis ist ein geruchloser, aber lauter Ort. Ständig schlagen irgendwelche Stahltüren, scheppern die Türklappen, dröhnen Durchsagen über die Lautsprecher, ertönt das Alarmsignal, weil ein Insasse den Button gedrückt hat, oder fahren die Aufseher scheppernd mit den Handwagen, mit denen sie Brot, Mahlzeiten oder Zeitungen verteilen. Mal höre ich Gefangene, die sich brüllend unterhalten, mal die Aufseher, die sich in ihrer Teeküche in der Nähe meiner Zelle versammeln, mal aus der Ferne den Lärmprotest der DHKP-C-Leute. Und manchmal alles auf einmal.“
Die Beschreibungen des Gefängnisalltags berühren mich immer wieder: „Zum Aufschließen der Hoftür kommen die Aufseher durch einen Hintereingang in den Hof, den sie hier, ob zum Spott oder aus Unbedachtheit, ‚Garten‘ nennen. Tatsächlich ist der Hof komplett zubetoniert, geringfügig größer als meine Zelle und von etwa acht Meter hohen und mit Stacheldraht gekrönten Mauern umgeben. Kurz bevor ich herkam, wurden alle Innenhöfe mit einem Maschendrahtzaun überdeckt. ‚Wohl, damit wir nicht die Wolken berühren‘, hat es der frühere Zaman-Reporter Emre Soncan einmal so schön formuliert.“ Auch die Fragen nach den Strategien, die zu seiner langen Haft und später zu seiner Entlassung führen, nehmen großen Raum ein und machen deutlich, wie herausfordernd die Willkür der Repression ist. Bis zum Schluss bleibt unklar, welche öffentlichen und nichtöffentlichen Aktionen seinen Prozess beeinflussen. Dabei ist die Zeitleiste, die zusammen mit dem Abkürzungs- und Personenverzeichnis, sowie einer umfangreichen Danksagung das Buch abschließt, äußerst hilfreich, um die verschiedenen politischen Stränge nachverfolgen zu können, die Deniz im Buch erwähnt. Und es wird klar, mit welchen Schwierigkeiten und damit auch Schmerzen und Fragezeichen viele der politischen Entscheidungen der Anwälte, von Dilek und seiner Familie, der Freundeskreise immer wieder verbunden waren: Helfen sie oder richten sie Schaden an?
Ungewohnt fühlt es sich für mich an, als Teil seiner Geschichte im Buch aufzutauchen. Aber es ist in Teilen einfach eine gemeinsame Geschichte und ich bin Deniz Yücel dankbar, dass er sie so bewegend, detailliert und differenziert aufgeschrieben hat.
Deniz Yücel: Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 400 Seiten, 22 Euro.
Zum Autor
Peter Steudtner hat viele Jahre bei INKOTA gearbeitet. Seit einigen Jahren arbeitet er als Trainer für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und holistische Sicherheit sowie als Dokumentarfilmer. Von Juli bis Oktober 2017 war er als Teil der "Istanbul 10" in Haft.
Peter Steudtner hat viele Jahre bei INKOTA gearbeitet. Seit einigen Jahren arbeitet er als Trainer für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und holistische Sicherheit sowie als Dokumentarfilmer. Von Juli bis Oktober 2017 war er als Teil der "Istanbul 10" in Haft.