Wenn nur noch die Rendite zählt
Wie die stetig voranschreitende Finanzialisierung soziale Ungleichheit verstärkt und nachhaltige Entwicklung behindert
Nachhaltige Entwicklung kann nur gelingen, wenn ihre Finanzierung gesichert ist. Welche Rolle öffentliche Gelder und privates Kapital dabei spielen sollen, ist stark umstritten. Besonders die EU fordert und fördert den Einsatz privater Investoren, während sie Verpflichtungen aus der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit nicht einhält und Steuerflucht nicht wirksam bekämpft. Welche Finanzierungsstrategie gewählt wird, hat erheblichen Einfluss auf die Art der Entwicklung und die Lebensbedingungen der Menschen im globalen Süden.
Man stelle sich eine Welt vor, in der Schulen als Wertpapier von Blackrock an der Börse gehandelt werden, das nahegelegene Krankenhaus einem Investmentfonds von Morgan Stanley gehört und die Straße vor dem eigenen Haus dem Vermögensverwalter DWS. In vielen Ländern ist dieses Schreckensszenario der Finanzialisierung bereits zu weiten Teilen Realität geworden, besonders im globalen Süden.
Mit Finanzialisierung wird allgemein das Phänomen bezeichnet, dass in den letzten Jahrzehnten der Anteil des Kapitals an der Wirtschaftsleistung der meisten Länder gewachsen ist, auf Kosten des Anteils der Arbeit und der Löhne. Innerhalb des Kapitalanteils stieg die Bedeutung des Finanzsektors im Vergleich zur sogenannten Realwirtschaft, und damit auch die Bedeutung von Banken, Investmentfonds, Immobilientrusts und Versicherungen gegenüber traditionellen Industrieunternehmen.
Finanzialisierung geht aber über den Bereich der reinen Finanzsphäre hinaus, sie erstreckt sich auch auf Politik und Ideologie. In der Politik haben Wirtschafts- und besonders Finanzmarktakteure deutlich an Macht und Einfluss gewonnen. Damit können sie politische Prozesse dominieren und dahingehend lenken, dass vergangene Schritte der Finanzialisierung abgesichert werden und zukünftigen Schritten der Weg bereitet wird.
Im Bereich der Ideologie werden Ideen verbreitet, die solche Prozesse ermöglichen, befördern oder potenziellem Widerstand den Wind aus den Segeln nehmen. Das sind zum Beispiel Dogmen, wie dass die Menschen eine private kapitalbasierte Zusatzversicherung zur Rente bräuchten, dass private Dienste von besserer Qualität seien als öffentliche, dass Austeritätspolitik unabdingbar für solide Staatsfinanzen sei oder auch dass mehr privates Kapital mobilisiert werden müsste, um die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) bis 2030 zu erreichen. Dadurch werden Entscheidungen in einer Weise gelenkt, die weitere Finanzialisierung begünstigen und vorantreiben.
Finanzialisierung und Neoliberalismus sind wie zwei Brüder, nicht identisch aber durch zahlreiche Wechselwirkungen miteinander verknüpft. Beide haben seit den 1980er Jahren an Schwung gewonnen und sich in mehreren Stufen immer mehr intensiviert. Der Staat und öffentliche Institutionen werden instrumentalisiert. Wann immer eine Spekulationsblase zu platzen und eine Anlageklasse dramatisch an Wert zu verlieren droht, machen die Nutznießer der Finanzialisierung das, was sie sonst vehement kritisieren: Sie rufen nach dem Eingreifen des Staates, zu ihren Gunsten.
So wurden private Banken in der Finanzkrise ab 2008 durch staatlich organisierte sogenannte Bailouts gestützt, finanziert alleine in der EU mit Steuergeldern in Höhe von 4,5 Billionen Euro. Damit waren auch die Finanzanlagen der Vermögensbesitzer*innen geschützt. In der jüngsten Stufe kaufen Zentralbanken im Zuge ihrer Anleihekaufprogramme neuerdings auch Finanzprodukte privater Emittenten auf, stützen damit ihre Kurse und garantieren die Vermögen ihrer Eigentümer*innen und solide Bilanzen bei privaten Banken.
Die Konsequenz einer derartigen Geldpolitik: Die Vermögenpreise bei Aktien und Immobilien hatten schon wenige Monate nach Beginn der Covid-19-Krise Anfang 2020 neue Höchststände erreicht. Laut dem World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober 2021 soll auch die Wirtschaftsleistung 2022 wieder das Niveau von vor der Krise erreichen. Dies alles geschieht, während auch 2022 noch in einem Drittel aller Länder das Beschäftigungsniveau unter dem Vorkrisenstand bleiben wird, bei Entwicklungsländern ist der Anteil höher als in reichen Ländern. Die Balance verschiebt sich damit weiter zugunsten des Kapitals, die Ungleichheit nimmt weiter zu.
Internationale Finanzinstitutionen als Türöffner
Im globalen Süden wurde die Finanzialisierung gezielt durch die internationalen Finanzinstitutionen (IFIs) vorangetrieben. Die Schuldenkrise seit den 1980er Jahren lieferte die betroffenen Länder den Finanzhilfen von IWF und Weltbank aus, und damit auch den dazugehörigen politischen Konditionen.
Strukturanpassungsprogramme, die dem immer gleichen Dreiklang aus Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung folgten, öffneten neue Bereiche für private Investoren und ihr Finanzkapital. Parallel dazu schwächten sie die Kapazitäten des Staates zur Regulierung und zur Bereitstellung öffentlicher Güter.
Vierzig Jahre später wird zwar das Tabuwort „Strukturanpassungsprogramm“ von keinem IWF-Mitarbeitenden mehr in den Mund genommen, geändert hat sich in der Praxis jedoch wenig. Seit den Verhandlungen zu den SDGs 2015 gilt das Dogma, dass nicht genügend öffentliche Gelder für ihre Umsetzung zur Verfügung stünden. Unter dem Schlagwort „from Billions to Trillions“ forderten die IFIs bereits im April 2015 in einem gemeinsamen Positionspapier, dass privates Kapital zukünftig die Hauptrolle in der Entwicklungsfinanzierung spielen solle.
Privates Kapital solle öffentliche Mittel aus Steuereinnahmen und Öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit (ODA) nicht nur ergänzen, sondern diese sollten in Zukunft primär dafür eingesetzt werden, private Investitionen zu mobilisieren. Die öffentliche Hand solle dabei die privaten Investitionen über komplexe Finanzinstrumente subventionieren oder ihnen durch großzügige Garantien das Investitions- und Verlustrisiko abnehmen.
Die Weltbank zementierte diesen Ansatz auch in ihrem operativen Geschäft. Seit Anfang 2018 wird unter dem PR-Begriff „Maximizing Financing for Development“ ein Kaskadenmodell vorangetrieben, in dem privates Kapital bei der Finanzierung einer Aktivität grundsätzlich Vorrang bekommt. Findet sich zu Marktkonditionen kein*e Investor*in, solle die private Investition mit öffentlichen Geldern subventioniert und garantiert werden. Nur wenn auch dies nicht klappt, sollen öffentliche Gelder zum Einsatz kommen. Die Konsequenz dieses Ansatzes ist zwangsläufig ein immer weiter schrumpfender öffentlicher Raum, denn wo privat finanziert wird, werden in der Regel keine öffentlichen Güter geschaffen.
In Debatten um die Finanzierung der SDG werden Entwicklungsländer wieder und wieder dazu aufgefordert, ihre Natur, ihre Infrastruktur, ihr Bildungssystem und ihr Gesundheitswesen in „bankable projects“ umzuwandeln. Also in hübsche und attraktive Investmentpakete, die sie auf internationalen Finanzmärkten privaten Investoren feilbieten können. An Investoren, die nach neuen Verwertungsmöglichkeiten für Kapital suchen, die in Zeiten von Wachstumsschwäche und Niedrigzinsen im globalen Norden kaum noch zu finden sind.
Nachhaltige Entwicklung als Anlageprodukt
Der Investitionsdruck der Kapitalbesitzer*innen aus dem globalen Norden treibt die Investitionsgrenze in immer neue „frontier markets“ voran, sowohl geographisch als auch sektoral. Während Entwicklungsländer wie Ghana, Senegal oder Sambia noch vor wenigen Jahren als nicht kreditwürdige no-go areas für private Investor*innen galten, emittieren diese Länder mittlerweile Staatsanleihen auf den globalen Finanzmärkten. Dies zu Zinssätzen, die zehn Prozent und mehr erreichen können, weshalb die jährlichen Zinszahlungen sie finanziell ausbluten, und jeder Fälligkeitstermin einer voluminöseren Anleihe ein Moment des Bangens wird, in dem der Zahlungsausfall droht.
Finanzierungsstrategien, die auf privates Kapital setzen, haben zu einem rapiden Anstieg der Verschuldung geführt. Die Weltbank warnte auf ihrer jüngsten Jahrestagung im Oktober, dass die Verschuldung in den ärmsten Ländern der Welt neue Höchststände erreicht hat. Alleine 2020 ist sie um zwölf Prozent in die Höhe geschossen. Mehr als die Hälfte dieser Länder droht in eine Schuldenkrise zu geraten oder befindet sich bereits darin.
Dass privates Kapital zusätzliche Ressourcen für die Finanzierung nachhaltiger Entwicklung liefert, hat sich als Trugschluss erwiesen. Mittlerweile sind die Nettotransfers negativ. Regierungen im globalen Süden zahlen mehr für den Schuldendienst, als sie an Neukrediten erhalten. Ein immer größerer werdender Teil der Steuerzahlungen ihrer Bürger*innen wird privaten Investor*innen überwiesen, häufig ins Ausland. Der Schuldendienst absorbiert einen wachsenden Teil des Staatshaushalts. Jeder Dollar, der in den Schuldendienst fließt, ist ein Dollar, der bei der Finanzierung von Bildung und Gesundheit, bei sozialer Sicherheit und dem Kampf gegen den Klimawandel fehlt.
Auch verhalten sich private Investoren in Krisenzeiten unzuverlässig. Die Anfälligkeit für Krisen im globalen Süden ist durch die Deregulierung des Kapitalverkehrs gewachsen, private Kapitalflüsse sind extrem volatil. Jüngstes Beispiel waren die ersten Monate des globalen Corona-Lockdowns im März/April 2020, als Entwicklungsländer zum Opfer der schnellsten und größten Kapitalflucht jemals wurden. Innerhalb kürzester Zeit zogen privaten Investoren knapp 100 Milliarden US-Dollar aus den Ländern des globalen Südens ab und verlagerten sie in vermeintlich sichere Investitionshäfen.
Nicht nur die Internationalen Finanzinstitutionen befördern dieses System. Auch die Vereinten Nationen lassen sich vereinnahmen. So findet zeitgleich zum jährlichen Financing for Development Forum des Wirtschafts- und Sozialrats der UN auch eine „SDG Investment Fair“ in New York statt. Auch die Bundesregierung hat sich mit dem „Compact with Africa“ der Strategie verschrieben, im globalen Süden ein gutes Investitionsklima für den Privatsektor zu schaffen.
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Die Koalition der G20 treibt eine ganze Reihe neoliberal inspirierter Politikprojekte voran. Unter anderem gibt sie sich seit einigen Jahren alle Mühe, „infrastructure as an asset class“, also Infrastruktur als neue Anlagekategorie zu etablieren. Dass die OECD in diesem Zusammenhang stolz zitiert, dass 90 Prozent aller Investoren mehr in Infrastruktur investieren wollen, sollte einem eher Angst machen, wenn man einen Menschenrechtsansatz beim Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen vertritt. Der Drang zu Gewinnmaximierung und das Bedürfnis, Investitionen schnell wieder abstoßen zu können, sind fester Bestandteil der Kapitallogik. Das verträgt sich schlecht mit dem Recht auf Bildung, dem universellen Zugang zu Gesundheitsversorgung und dem Ansatz der Agenda 2030 des „Leave No One Behind“.
Mittlerweile ist die Finanzialisierung fast in alle Sektoren vorgedrungen. Vornehmlich öffentliche Güter wie das Bildungs- und das Gesundheitssystem werden privatisiert und in Waren verwandelt. Selbst Agrarland wird zunehmend zum Spekulationsobjekt, Investoren sichern sich durch Land Grabbing lukrative Stücke und verdrängen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, die keine sicheren Landtitel vorweisen können. Auch Wohnraum ist zur Ware geworden. Neue Klassen von Finanzprodukten wie Studienkredite, Gesundheitskredite (health care loans) und Mikrohypotheken ermöglichen den Kauf grundlegender Dienstleistungen dort, wo der Rechtsanspruch auf diese verloren gegangen ist – und stürzen immer mehr Menschen in die Schuldenfalle.
Alternativen zur Finanzialisierung
Zum Glück gibt es auch Gegentrends zur Finanzialisierung, und Alternativen gibt es genug. So sind in vielen Ländern und Städten Prozesse der Rekommunalisierung im Gange, bei denen zum Beispiel die Wasserversorgung und die Transportinfrastruktur wieder in die öffentliche Hand überführt wird. Dies häufig aufgrund von massiven Protesten von Bürger*innen, die für besseren Zugang kämpfen. Ein wichtiger erster Schritt ist, sich die Dogmen der Finanzialisierung vorzunehmen. Insbesondere jenes, dass es nicht genügend öffentliche Finanzmittel zur Bereitstellung öffentlicher Güter und der Finanzierung nachhaltiger Entwicklung gäbe.
Nach Angaben von UN und OECD stieg die Finanzierungslücke bei den SDGs seit Beginn der Covid-19-Krise von 2,5 auf 4,2 Billionen US-Dollar, Doch im gleichen Zeitraum haben Regierungen überall in der Welt gut 20 Billionen US-Dollar an öffentlichen Haushaltsmitteln zur Bekämpfung der Krise bereitgestellt, also etwa das Fünffache der angegebenen Finanzierungslücke. Möglich gemacht wurde dies durch den Einsatz der Zentralbanken, die es zumindest im globalen Norden den Regierungen erlaubten, durch Ausgabe neuer Staatsanleihen gewaltige Summen zu mobilisieren, in dem sie diese Anleihen in Massen aufkauften. Im Nebeneffekt wurden die Zentralbanken zum größten Gläubiger ihrer Regierungen.
Geld ist also genug da. Für alle, deren Gehalt wieder nicht bis zum Ende des Monats reicht, mag das schräg klingen, aber „Geld“ ist so ziemlich die einzige Ressource auf unserem Planeten, die nicht knapp ist, sondern vom Finanzsystem in unbegrenzter Menge geschaffen werden kann. Leider passiert es in der Regel zum falschen Zweck, eben eher zur Stützung der Marktwerte von Finanzprodukten und zur Sicherung privater Gewinne als zur Finanzierung nachhaltiger Entwicklung.
Bislang war die Covid-Krise eine vertane Chance. Es hat nur zaghafte Ansätze gegeben, die gewaltige Injektion fiskalischer (und in letzter Konsequenz) monetärer Ressourcen für eine sozialökologische Transformation zu nutzen. Ein zaghafter Versuch war die Verpflichtung unter dem neuen EU-Wiederaufbaufonds, 37 Prozent der Mittel für grüne Projekte einzusetzen.
Natürlich braucht es nicht unbedingt neu geschöpftes Geld, um nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung zu finanzieren. Es ist auch jetzt schon genug da: Laut einem Expertenbericht der UN befinden sich sieben Billionen US-Dollar an privaten Vermögen in Steueroasen und entziehen sich damit der Besteuerung. Durch Gewinnverschiebung transnationaler Konzerne in Steueroasen gehen weitere 500 bis 600 Milliarden US-Dollar jährlich verloren. Der jüngste Skandal um die Pandora-Papers hat bewiesen, dass auch nach Jahren von Verhandlungen bei der OECD, keine wirksamen Mittel gegen Steuerflucht bereitstehen.
Seit Beginn der Coronakrise sind die Nettovermögen der Milliardär*innen weltweit von 8 auf 13,5 Billionen US-Dollar gewachsen, eine unglaubliche Steigerung von 69 Prozent in nur etwa anderthalb Jahren. Oxfam und andere haben argumentiert, dass eine einmalige 99%-Abgabe auf die Gewinne der Krisengewinner ausreichen würde, um alle Menschen weltweit zu impfen und dazu noch allen Arbeitslosen weltweit einen 20.000-Dollar-Scheck auszustellen.
Auch die bereits genannte Finanzierungslücke von 4,2 Billionen US-Dollar bei den SDGs würde mit dieser Abgabe mehr als gedeckt. Weltweit setzen sich Aktivist*innen für mehr Steuergerechtigkeit ein, damit Kapitalerträge, Vermögen, Erbschaften und Unternehmensgewinne besser besteuert werden. Auch dies wäre ein zentraler Schritt, um Finanzialisierung zurückzudrängen und den Staat wieder zu ermächtigen, seine Pflichten bei der Bereitstellung öffentlicher Güter wahrzunehmen. Die neue Bundesregierung sollte sich an diesen Herausforderungen messen lassen.
Bodo Ellmers leitet das Programm zu Finanzierung nachhaltiger Entwicklung bei Global Policy Forum Europe.
Bodo Ellmers leitet das Programm zu Finanzierung nachhaltiger Entwicklung bei Global Policy Forum Europe.