Weder gerecht, noch gesund, noch nachhaltig
Der UN-Welternährungsgipfel in New York wird eine wichtige Chance für eine grundlegende Umgestaltung des Ernährungssystems versäumen
Das weltweite Ernährungssystem befindet sich in einem alarmierenden Zustand. Ein Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen am 23. September soll eine Trendwende einleiten. Getrieben wird die Initiative allerdings von der Ernährungs- und Agrarindustrie, deren Unternehmen die großen Gewinner des bisherigen Systems sind. Kritik und Zweifel daran, dass private Akteure vom Problem zur Lösung werden können, begleiten den Gipfel.
Die Art und Weise, wie unser Essen heute produziert wird, verletzt Menschenrechte, macht Menschen und Tiere krank und zerstört die Umwelt. Während der Covid-19-Krise trat noch deutlicher zu Tage, dass die zentrale Frage der Welternährung ungelöst ist: wie sich nämlich alle Menschen weltweit mit ausreichend gesunder Nahrung versorgen können und dabei zugleich die natürlichen Ressourcen erhalten. Im Gegenteil verstärken die Auswirkungen der globalen Gesundheitskrise die weltweiten Ungleichheiten noch weiter, und dies in einer alarmierenden Geschwindigkeit. Das belegen auch die aktuellen Zahlen der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO): Rund 120 Millionen Menschen mehr, so die Sachätzung, hungern seit Beginn der Pandemie. In einem solch drastischen Ausmaß sind die Zahlen seit weit mehr als zehn Jahren nicht gestiegen.
Paradoxerweise sind die Auswirkungen nicht für alle Akteure im Ernährungssystem negativ. Es gibt auch klare Gewinner. Supermarkt- und Handelsketten verzeichneten im vergangenen Jahr Rekordgewinne. Ein aktueller Report der Entwicklungsorganisation Oxfam fasst die Zahlen für Deutschland zusammen. Demnach machten die deutschen Supermarktkonzerne Rewe und Edeka fast 17 Prozent mehr Umsatz als im Jahr 2019, und die Discounter Lidl und Aldi legten neun Prozent zu. Auch für das laufende Jahr bewegen sich die Prognosen in diesem Rahmen. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) schreibt vom „besten Jahr seit Menschengedenken“ für die Nahrungsmittelbranche.
Die vielen Arbeiter*innen, die in allen Teilen der Welt auf Plantagen – oftmals für Hungerlöhne und giftigen Pestiziden ausgesetzt – dafür arbeiten, dass ganzjährig sämtliche Obst- und Gemüsesorten die Supermarktregale füllen, oder die Menschen, die in den Supermärkten, Schlachtbetrieben oder bei Zuliefer*innen einer besonders hohen Arbeitsbelastung und einem überdurchschnittlichen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind, werden zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Denn sie profitieren von den Rekordumsätzen keineswegs.
Nur ein Bruchteil der Gewinne wurde nach Oxfam-Recherchen in den Schutz der Arbeiter*innen oder deren Löhne investiert. Dabei würde bereits ein kleiner Teil der Vermögenssteigerung der Aldi-Süd-Besitzer*innen ausreichen, um vier Millionen Kaffee-Arbeiter*innen im brasilianischen Minas Gerais existenzsichernde Löhne zu zahlen. Zuletzt stieg in Brasilien, wo besonders viele Produkte für den Export produziert werden, die Zahl der Hungernden rapide an.
Berechnungen und Beispiele wie diese veranschaulichen einzelne Aspekte eines vielschichtigen Problems, das einen großen Teil der Menschen weltweit betrifft, vor allem im globalen Süden. Einer von drei Menschen hat derzeit keinen Zugang zu angemessener Nahrung. Einkäufe im Supermarkt sind für viele Menschen ein Privileg. Weil die dort angebotenen Waren für weite Teile von städtischen Bevölkerungen zu teuer und damit unerreichbar sind oder weil es gar keine Supermärkte in abgelegenen ländlichen Regionen gibt.
Abonnieren Sie den Südlink
Im Südlink können Autor*innen aus dem Globalen Süden ihre Perspektiven in aktuelle Debatten einbringen. Stärken Sie ihnen den Rücken mit Ihrem Abo: 4 Ausgaben für nur 18 Euro!
Dass es für die meisten Regierungen während der Pandemie oberste Priorität hatte, die Warenströme für Supermärkte am Laufen zu halten, während lokale Märkte und Straßenküchen zeitweise geschlossen waren, zeigt die drastische Schieflage des bestehenden Ernährungssystems auf. Ganz zu schweigen von der durch Supermärkte vielfach verbreiteten ungesunden Ernährungsweise, die zu einer Überversorgung an hochverarbeiteten Lebensmitteln führt. Auch das bleibt nicht ohne Konsequenzen, denn Fettleibigkeit nimmt in allen Weltregionen zu. Nachweislich besteht ein Zusammenhang mit Supermarkternährung. In städtischen Gebieten Kenias etwa konnten Wissenschaftler der Universität Göttingen zeigen, dass das Einkaufen in Supermärkten zu einer signifikanten Zunahme des Body-Maß-Indexes führte.
Die falschen Annahmen der Grünen Revolution
Die Probleme des Ernährungssystems sind vielschichtig und die alarmierenden Zahlen zeugen vom Versagen politischer Entscheidungsträger*innen, vereinbarte Maßnahmen und bestehende Gesetze umzusetzen und zum Beispiel für eine konsequente gesetzliche Beschränkung von Konzernmacht und damit privatwirtschaftlichen Interessen zu sorgen. Daher wollen sie künftig das gesamte Ernährungssystem stärker in den Blick nehmen. Ein im September 2021 in New York stattfindender Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen (UN Food Systems Summit) befasst sich daher explizit mit „Food Systems“, Ernährungssystemen, und will nach eigenen Angaben eine Trendwende in der Hungerbekämpfung einleiten. Ob er dieses Ziel erreichen kann, dazu später mehr.
Grundsätzlich ist es gut und wichtig, nach ganzheitlichen Lösungen zu suchen. Zu viele Belege gibt es dafür, dass Lösungsansätze, die nur auf eine Fehlstellung fokussieren, nicht ausreichen, sondern Probleme an anderer Stelle noch verstärken. Das zeigt sich etwa am Ansatz der Grünen Revolution, der auf einseitige Produktionssteigerungen durch den erhöhten Einsatz von chemischen Düngemitteln, Industriesaatgut und Pestiziden die Produktion von Monokulturen wie Mais steigern soll – und dabei weder für eine vielfältige Ernährungsweise, noch für die Umwelt oder ein gesichertes Einkommen der Bäuerinnen und Bauern eine Lösung sein kann. Selbst wenn kurzfristig mehr Mais auf den Äckern wächst, überwiegen langfristig die negativen Folgen dieser Art der Landwirtschaft: ein Verlust an Biodiversität, eine zu einseitige Ausbeutung von Böden und negativen Klimaauswirkungen. Die Klimakrise wiederum führt bereits jetzt nachweislich in vielen Regionen zu Ertragseinbrüchen.
Nicht mehr nur soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Gruppen und kritische Wissenschaftler*innen fordern, das ganze Nahrungsmittelsystem in den Blick zu nehmen. Der Begriff „Ernährungssysteme“ hat sich in diesem Zusammenhang stark verändert wie Wissenschaftler*innen um Christophe Bénéa und Steven D. Prager analysiert haben. Beschäftigten sich Wissenschaftler*innen in den 1960er Jahren vor allem mit der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln, rückten im folgenden Jahrzehnt bereits Konsummuster und die Entscheidungen von Konsument*innen in einer zunehmend industrialisierten Ernährungswirtschaft in den Vordergrund.
Laut Definition des Hochrangigen Expertengremiums aus Wissenschaftler*innen und Politik (HLPE) wird heute in einem global verzweigten Ernährungssystem zunehmend auf eine Perspektive gezielt, die versucht alle Elemente – wie Umwelt, Menschen, landwirtschaftliche Betriebsmittel, Anbaumethoden, Infrastruktur und öffentliche Institutionen – ebenso wie Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Herstellung, Weiterverarbeitung, Verteilung, Zubereitung und dem Konsum von Nahrung entstehen, einzubeziehen. Zudem sollen die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen dieser Aktivitäten in die Entwicklung von politischen Lösungen einfließen.
Politische Maßnahmen müssten dafür sorgen, dass nicht einzelne privatwirtschaftliche Akteure wie Supermarktketten die Profiteure des Ernährungssystems sind. Stattdessen müssen wirksame Politiken und verbindliche Regulierungen in Kraft sein, die verhindern, dass Menschenrechte verletzt werden und massive ökonomische, politische, soziale und ökologische Ungleichheiten entstehen.
Das ganze System in den Blick nehmen
Anhand der Gewinne deutscher Supermarktketten lässt sich veranschaulichen, welche Fragen in eine politische Entscheidungsfindung einfließen müssten, um das gesamte „System“ in den Blick zu nehmen: Wem gehört das Land, auf dem die Nahrungsmittel angebaut werden? Welche ökologischen Auswirkungen auf Menschen und Natur hat die Anbaumethode? Wie werden die Rechte (Arbeitszeit, Schutz vor Pestiziden und sexuellen Übergriffen) umgesetzt? Wie hoch sind die Löhne von Arbeiter*innen und die Preise für Landwirt*innen? Wer bestimmt die Preise, der Handel oder die Bäuerinnen? Werden die geernteten Nahrungsmittel lokal in den Ländern verkauft oder wird nur für Exportmärkte produziert? Wie sind die Einfuhr- und Ausfuhrbestimmungen reguliert? Wer profitiert von landwirtschaftlichen Subventionen? Wo zahlen die Unternehmen ihre Steuern und wieviel? Wo werden die Rohstoffe weiterverarbeitet, wo findet die Wertschöpfung statt? Werden die Produkte hochindustriell unter Zugabe von viel Zucker, ungesättigten Fetten und Geschmacksstoffen hergestellt oder handwerklich? Wie viel Energie ist dafür notwendig? Wie wird die Verpackung hergestellt? Welche Normen und Standards müssen eingehalten werden, wer bestimmt und beeinflusst sie? Wie beeinflussen Werbekampagnen das Konsumverhalten und wieweit dürfen sie gehen, wenn sie ungesunde Nahrungsmittel anpreisen? Die Liste der Fragen kann nahezu endlos weitergeführt werden. Ganz anders würden Fragestellungen zu Ernährungssystemen außerhalb der industriellen Logik aussehen.
Es gibt unzählige Beispiele, die die Dominanz und den Einfluss großer Lebensmittel- und Agrarkonzerne auf unsere Ernährung zeigen. Letztlich geht es immer um die Frage: Wer bestimmt, was auf unseren Tellern landet, und ist das richtig so? In vielen Fällen sind enorme Machtgefälle und Interessenkonflikte im Spiel: zwischen Bauern und Bäuerinnen sowie Zwischenhändler*innen, zwischen Einzelhandelsketten und ihren Mitarbeiter*innen, aber auch Konsument*innen. Eine ernstgemeinte Betrachtungsweise inklusive all dieser Wechselwirkungen und Auswirkungen zeigt die Notwendigkeit einer grundlegenden Transformation des globalen Ernährungssystems auf.
Der Welternährungsgipfel und die Rolle der Konzerne
So erfreulich es auch ist, dass mit dem UN Food Systems Summit eine systemische Betrachtungsweise auf das Tableau der internationalen Politik gelangt, so sehr lässt doch die bisherige Ausgestaltung des Gipfels daran zweifeln, dass eine Veränderung angestrebt wird, die nachhaltig die großen Ungleichheiten und Probleme lösen kann. Stattdessen lädt UN-Generalsekretär Antonio Guterres auf gemeinsame Initiative mit dem Weltwirtschaftsforum und unter Federführung von prominenten Vertreter*innen des Ansatzes einer Grünen Revolution Ende September nach New York ein. Seit vor zwei Jahren mit den Planungen begonnen wurde, stoßen die Vorbereitungen auf breite Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Bewegungen weltweit. Denn von Beginn an bestimmten multinationale Konzerne die Konzeption des Gipfels – also ebenjene Akteure, die am meisten vom Erhalt des Status Quo profitieren.
Selbst der eher neoliberale Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs kritisierte in einer scharfen Gegenrede im Rahmen eines Vorgipfels im Juli in Rom: „Wir haben bereits ein Ernährungssystem, wir brauchen ein anderes System. Und diese Umgestaltung können wir nicht dem Privatsektor überlassen, denn das haben wir bereits vor 100 Jahren getan.“
Sachs ist nicht der einzige Kritiker. Mehr als 500 Organisationen haben in offenen Briefen, die bis heute unbeantwortet blieben, schon vor mehr als anderthalb Jahren den UN-Generalsekretär dazu aufgefordert, vorrangig diejenigen Menschen anzuhören und in Entscheidungen einzubeziehen, die am stärksten von Hunger betroffen sind und unter dem industriellen System leiden wie kleinbäuerliche Erzeuger*innen, Fischer*innen, Frauen und viele mehr. Sie sollten ihre drängendsten Themen auf die Agenda bringen und einen Platz am Verhandlungstisch beanspruchen können. Doch nichts davon wurde rechtzeitig umgesetzt, sodass sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen entschieden, nicht am Gipfel teilzunehmen.
Stattdessen haben Sie in einem umfangreichen Parallelgipfel ihre alternativen, agrarökologischen Konzepte, Ansätze der Ernährungsvielfalt und die Zielkonflikte des Gipfels aufgezeigt und diskutiert – und in öffentlichen Aktionen dargestellt, dass der Gipfel „nicht in ihrem Namen“ stattfindet. Mehr als 10.000 Menschen folgten dieser alternativen Gegenmobilisierung, die digital und parallel zum offiziellen Vorgipfel Ende Juli stattgefunden hat. Gleichzeitig rufen inzwischen mehr als 300 kritische Wissenschaftler*innen zu einem Boykott des Gipfels auf. Selbst das hochrangige Wissenschaftsgremium IPES Food, das dem Gipfel zunächst eine Chance geben wollte und sich in dessen Vorbereitung einbrachte, verkündete nach nur einem Tag des Vorgipfels in einer Stellungnahme den Ausstieg: zu konzerngesteuert, zu wenig an einer wirklichen Veränderung arbeitend, stattdessen im Weiter-So verhaftet, sind nur einige der Argumente dieser Stellungnahme. In der Tat setzt der Gipfel auf technologische Lösungen, die auf einseitige Produktionssteigerungen setzen, und vernachlässigt menschenrechtsbasierte Lösungsansätze.
Dabei sind es die Staaten und ihre Regierungen, die ihre Verantwortung und ihre Steuerungsfunktion wahrnehmen müssten. In dem Multi-Akteurs-Ansatz, auf dem der Gipfel aufbaut, haben Konzerne und weitere Akteure jedoch einen zu großen Einfluss, wodurch die Regierungen ihrer Steuerungsfunktion nicht gerecht werden können. Viele Organisation, darunter aus Deutschland auch INKOTA, Brot für die Welt und Misereor, entschieden sich daher, nicht an dem Gipfel teilzunehmen.
So spart der Ernährungsgipfel denn auch viele zentrale Themen wie Handelspolitik, Ernährungsarmut oder die Rechte von Landarbeiter*innen aus, die für die Neugestaltung von Ernährungssystemen grundlegend wären. Nur eine politische Neuorientierung könnte jedoch zu wirklichen Verbesserungen für die Menschen führen, deren Menschenrecht auf Nahrung derzeit verletzt wird. So ist der Gipfel und der mit ihm einhergehende Prozess eine verpasste Chance für eine so dringend notwendige Transformation hin zu einem demokratischen Ernährungssystem, in dem öffentliche vor privaten Interessen und die Rechte von Bäuerinnen und Bauern, Indigenen, Frauen und Arbeiter*innen im Mittelpunkt stehen.
Eine grundlegende Wende hin zu einer agrarökologischen, ressourcenschonenden Produktionsweise, die vielfältige Nahrungsmittel für alle Menschen produziert und eine gesunde Ernährungsweise fördert, und die Dominanz von Konzerninteressen zurückdrängt, wird dieser Gipfel nicht erreichen.
Dafür bräuchte es einen inklusiven Multilateralismus, in dem vor allem die Staaten verhandeln, und keinen konzerngesteuerten Multi-Akteursansatz, bei dem Staaten und Industrievertreter gleichberechtigt am Verhandlungstisch sitzen. Doch derzeit deutet alles darauf hin, dass der Welternährungsgipfel das bestehende Ernährungssystem manifestieren wird statt eine Trendwende einzuleiten.
Lena Bassermann ist Referentin für Welternährung und globale Landwirtschaft bei INKOTA
Lena Bassermann ist Referentin für Welternährung und globale Landwirtschaft bei INKOTA
Gefördert durch Brot für die Welt aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes, die Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit des Landes Berlin, Misereor sowie durch Engagement Global im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das INKOTA-netzwerk e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt der Zuwendungsgeber wieder.