Solidarität in engen Grenzen
Die Coronakrise trifft Geflüchtete und viele Menschen im globalen Süden besonders hart. Doch die reicheren Länder schauen im Zweifelsfall lieber weg
Während die meisten Regierungen im globalen Norden in der Coronakrise an die Solidarität in der Gesellschaft appellieren, endet diese spätestens an den europäischen Außengrenzen. Dabei sind gerade Menschen, die im globalen Süden in Armut leben oder als Geflüchtete in Lagern ausharren müssen, derzeit besonders gefährdet.
Woran werden wir uns eines Tages erinnern, wenn die Sprache auf die aktuelle Coronavirus-Pandemie kommt? An die Hunderttausenden Toten, die der Covid-19-Erkrankung weltweit zum Opfer fielen? An den globalen Lockdown, der die weitere Verbreitung des Virus verhindern sollte und in manchen Ländern Hunger und Armut noch verschärfte? An das schnelle Eingreifen der Bundesregierung, die binnen kürzester Zeit Milliarden mobilisierte, um die deutsche Wirtschaft zu stützen? Oder an das Versagen Europas angesichts des Elends der Geflüchteten in Moria?
Wie an wenigen Orten sonst zeigt sich in diesem Lager auf der kleinen Ägäis-Insel Lesbos in diesen Tagen die Zweiteilung der Welt. Denn während die erste Coronavirus-Welle im Rest Europas immer besser unter Kontrolle gebracht wurde, verschlechterte sich die Lage in Moria zunehmend. 20.000 Geflüchtete in einem völlig überfüllten Camp, das auf 3.000 Menschen angelegt ist, mit einer absolut unzulänglichen medizinischen Versorgung, katastrophalen hygienischen Bedingungen und dazu einer wachsenden Gewalt innerhalb und außerhalb des Lagers. In anderen Teilen der Welt sieht es nicht besser aus. Auch die 270.000 Geflüchteten in dem kenianischen Lager Dadaab oder die mehr als 600.000 Rohingya im weltgrößten Flüchtlingslager Kutupalong im Süden Bangladeschs sind durch das Coronavirus besonders gefährdet.
Die europäischen Regierungen tun nichts, um die Situation in Moria und anderen griechischen Lagern zu entspannen. Und das Mittelmeer ist praktisch dicht. Die private Seenotrettung ist so gut wie zum Erliegen gekommen und die Europäische Grenzschutzagentur Frontex weigert sich nach wie vor, Geflüchtete auf hoher See zu retten und nach Europa zu bringen.
Gerade einmal 47 unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus Moria durften nach Deutschland einreisen. Zuvor hatte Luxemburg zwölf aufgenommen, danach setzte ein großes Schweigen ein. Dabei hatten sich schon bis März 140 deutsche Städte bereiterklärt, Menschen aus Moria und anderen Lagern in Griechenland aufzunehmen. Ihre Zahl stieg während der Corona-Pandemie noch weiter an, doch das Bundesinnenministerium blockierte jede weitere Aufnahme.
Als ein Grund gilt eine mögliche Infektion der Geflüchteten. Doch zugleich wurden 80.000 Erntehelfer*innen eingeflogen, ohne zu überprüfen, ob diese sich am Coronavirus infiziert hatten. Das anscheinend wichtigere Ziel wurde schließlich erreicht: genug Spargel auf deutschen Tellern!
Dabei war das offizielle Ziel des Lockdowns ein zutiefst solidarisches, nämlich ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankung zu schützen. Auf lokaler Ebene bildeten sich in ganz Europa schnell Netzwerke gegenseitiger Unterstützung. Auch gingen Organisationen wie „Seebrücke“ trotz massiver Einschränkungen des Demonstrationsrechts für eine sofortige Evakuierung der Lager auf die Straße. Doch die Solidarität der Regierungen endet in Corona-Zeiten spätestens an den europäischen Außengrenzen. Sie bleibt selektiv und in engem Rahmen.
Es könnte ein böses Erwachen geben
Noch erhoffen sich einige Kommentator*innen, dass die Coronakrise ein Wendepunkt hin zu einer solidarischeren und gerechteren Gesellschaft werden könnte. Die Pandemie beweise erneut, dass Geld da sei, sofern nur der politische Wille vorhanden ist. Tatsächlich scheint plötzlich einiges möglich, was vor kurzer Zeit noch als sozialistischer Humbug abgetan wurde. Dass der Staat Milliardeninvestitionen tätigt, um die Wirtschaft in Gang zu halten, zeigt genau jene politischen Gestaltungsmöglichkeiten auf, die in der Klimakrise oder zur Verringerung sozialer Ungleichheit angeblich nicht existieren.
Die Erfahrungen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zeigen allerdings, dass die staatlichen Gelder, so wie sie verwendet werden, keine Transformation hin zu einem sozial gerechteren, klimaverträglichen und solidarischen Wirtschaftssystem ermöglichen. Die bald zu erwartenden Verteilungskämpfe könnten im Gegenteil gerade zu Lasten der Schwächsten gehen und der Druck der Privatwirtschaft zu Wirtschaftswachstum als oberstem Ziel und damit zu einem weiterhin steigenden CO2-Ausstoß führen.
Immerhin stehen im globalen Norden Instrumente bereit, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns zumindest vorübergehend abzufedern. Ganz anders sieht es in vielen Ländern des globalen Südens aus. Zwar scheint so manches Schreckensszenario zunächst einmal nicht einzutreten. Einige Stimmen warnten zu Beginn der Pandemie, das Coronavirus würde die Länder im globalen Süden aufgrund mangelhafter Gesundheitssysteme, schlechter hygienischer Bedingungen und verbreiteter Armut besonders hart treffen. Vor allem aber, das fehlt besonders in der Berichterstattung über Afrika, ist es wichtig zu differenzieren. Schnell wird vergessen, dass der Kontinent aus 55 Ländern besteht. Die Lage ist aber je nach Land sehr unterschiedlich. Und dass ein britisch-senegalesisches Projekt Mitte Mai kurz davor stand, einen sehr günstigen Schnelltest auf den Markt zu bringen, mit dem binnen zehn Minuten geprüft werden kann, ob eine Person infiziert ist, fand in kaum ein deutsches Medium Eingang. Das passt nicht in das Bild, das Afrika nur als Ort der Krisen und Katastrophen zeichnet.
Natürlich sind in den Armenvierteln São Paulos, Manilas oder Lagos‘ Maßnahmen wie Abstand halten sowie regelmäßiges Händewaschen illusorisch und auch indigene Gruppen häufig besonders gefährdet. Mit einigen unrühmlichen Ausnahmen wie beispielsweise in Brasilien oder Nicaragua haben die meisten Regierungen des globalen Südens aber entschlossen reagiert und weitgehend die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umgesetzt. Bisher ist ungeklärt, wie gut sich das Virus überhaupt unter tropischen Temperaturen ausbreitet. Auch haben einige afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder Erfahrung in der Eindämmung von Seuchen wie dem Ebolavirus, Tuberkulose, Malaria oder HIV-Aids und die meisten eine vergleichsweise junge Bevölkerung.
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Die Gefahr des Autoritarismus
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie werden jedoch immens sein. Da sind zunächst die direkten Folgen der fast überall verhängten Lockdowns. Vor allem in ärmeren Regionen und Stadtteilen verfügen die meisten Menschen nicht über Rücklagen, um die Krise abzufedern. Viele sind schlicht darauf angewiesen, weiter zu arbeiten und haben aufgrund prekärer oder informeller Beschäftigung keinen Anschluss an die Sozialsysteme. Diese funktionieren ohnehin meist nur rudimentär und im Gegensatz zu reicheren Ländern sind die von den jeweiligen Regierungen zur Verfügung gestellten Corona-Hilfen in der Regel unzureichend.
Zudem wird genau zu beobachten sein, wer die Pandemie als Vorwand verwendet, um repressive Maßnahmen zu etablieren. In El Salvador etwa regiert Präsident Nayib Bukele immer autoritärer. Schon Anfang Februar, also vor Ausbruch der Corona-Pandemie, hatte er das Parlament vom Militär besetzen lassen, um die Abgeordneten dazu zu zwingen, einem hohen Auslandskredit zuzustimmen. Seit Verhängung des „Notstands“ legte er sich wiederholt mit dem Parlament an und setzte sich über mehrere Anweisungen des Obersten Gerichtshofs hinweg. Seit März sind in El Salvador weit mehr als 2.000 Menschen wegen Verstößen gegen die Ausgangssperre in Haftzentren gelandet, wo sie teils mehr als 30 Tage verbringen mussten – und manche sich erst dort infiziert haben. Wer Kritik an Menschenrechtsverletzungen und seinem antidemokratischen Vorgehen übt, den überziehen Bukele und seine Internet-Trolls mit Häme, hanebüchenen Vorwürfen und mal mehr, mal weniger direkten Drohungen. So auch die INKOTA-Partnerorganisation FESPAD, der wichtigsten Menschenrechtsorganisation des Landes.
Noch drastischer als die direkten sind die indirekten wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, die noch über Jahre hinweg wirken könnten. Seien es die Produktionsstätten für Kleidung und Elektronikgeräte, der Tourismussektor oder die Rohstoffförderung: Die weltweite Wirtschaftskrise verringert die Deviseneinnahmen im globalen Süden drastisch. Die Rücküberweisungen von Migrant*innen an ihre Familien, die in Ländern wie Indien, Mexiko, den Philippinen oder Nigeria eine wichtige Rolle spielen, gehen ebenfalls zurück. Die Arbeitskraft der Migrant*innen wird zurzeit häufig schlicht nicht mehr gebraucht. Anleger*innen ziehen Kapital aus ärmeren Ländern ab und schichten es in vermeintlich sicherere Anlageformen um. Der Einbruch der internationalen Rohstoffpreise bringt viele rohstoffreiche Länder des globalen Südens, die häufig besonders stark vom Export weniger Ressourcen abhängen, an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Zahlreiche Länder könnten Schwierigkeiten bekommen, ihre Auslandsschulden zu bedienen. Ein Mitte April von den Ländern der G20 verabschiedetes Moratorium für die 77 ärmsten Länder schiebt das Problem nur auf. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank helfen mit Milliardenkrediten aus. Dadurch aber geraten viele Länder des globalen Südens erneut in die Abhängigkeit eben jener Institutionen, die ab den 1980er Jahren in Form von „Strukturanpassungsprogrammen“ brutale Sparprogramme durchsetzten.
Die Coronakrise droht die ohnehin bereits skandalöse soziale Ungleichheit sowohl auf globaler Ebene als auch innerhalb von Gesellschaften drastisch zu verschärfen. Dagegen hilft nur Solidarität. Und zwar über Grenzen hinaus.
Michael Krämer und Tobias Lambert sind Redakteure des Südlink.
Michael Krämer und Tobias Lambert sind Redakteure des Südlink.