Prekär statt Partner
Die Coronapandemie treibt den Verkauf von Lebensmitteln über digitale Plattformen in Asien voran
E-Commerce im Lebensmittelbereich boomt, große Konzerne fahren enorme Gewinne ein. Für die Arbeiter*innen und Lebensmittelproduzent*innen ist dies allerdings kein Grund zur Freude. Denn die digitalen Plattformen dienen nicht ihrer Unterstützung, sondern der Durchsetzung von Konzerninteressen – und schwächen lokale Ernährungssysteme.
Am 15. Januar dieses Jahres zündete sich Liu Jin in der chinesischen Stadt Taizhou an. Der 45-jährige Fahrer der Alibaba-Plattform für Essenslieferungen tat dies aus Protest gegen nicht gezahlte Löhne. „Ich will mein Blut- und Schweißgeld zurück“, sagte Liu Jin in einem Video, das in den sozialen Medien verbreitet wurde. Er ist einer der unzähligen Lebensmittelkuriere und Lagerarbeiter*innen von E-Commerce-Giganten, die weltweit unter prekären Bedingungen arbeiten. Im Vorjahr hatten am 1. Mai auch in den USA Zehntausende Beschäftigte von Amazon und Instacart – einem in Nordamerika ansässigen Online-Lebensmittelunternehmen – mit Arbeitsniederlegungen gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen protestiert. In Europa steht das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen ebenfalls in der Kritik.
Die Zeiten, in denen E-Commerce eine Nische für Käufer*innen von Büchern oder Elektronikartikeln war, scheinen vorbei zu sein. In den letzten fünf Jahren haben Online-Händler*innen vor allem in Asien aggressiv expandiert. Seit 2020 gewann der Sektor aufgrund der Coronapandemie nochmals erheblich an Schwung. Ein Bereich lässt derzeit ganz besonders aufhorchen: Lebensmittel.
Digitale Plattformen als Goldgrube
Asien ist der global am schnellsten wachsende Markt für den Online-Handel mit Lebensmitteln und gilt als bevorzugtes Investitionsziel für multinationale Konzerne und Online-Händler. Einige der weltweit größten E-Commerce- und Einzelhandelsunternehmen setzen alles daran, die Kontrolle über den Online-Lebensmittelvertrieb zu übernehmen und diesen auszubauen. Die Folgen für lokale Ernährungssysteme, kleine Anbieter*innen und Landwirt*innen sind gravierend.
Als angeblichen Vorteil wollen neue digitale Plattformen die Abhängigkeit von „Zwischenhändlern“ beseitigen und Landwirt*innen und andere kleine Lebensmittelproduzent*innen mit den Verbraucher*innen verbinden.
Während der Coronapandemie haben Landwirt*innen tatsächlich kreative Wege gefunden, digitale Plattformen zu nutzen, um direkt an die Verbraucher*innen zu verkaufen.
In Asien sind Landwirt*innen über soziale Medien oder E-Commerce-Tools online gegangen, um alternative Märkte zu organisieren. Im südindischen Bundesstaat Karnataka haben Landwirt*innen beispielsweise damit begonnen, über Twitter Videos ihrer Produkte zu veröffentlichen und mit Käufer*innen in Kontakt zu treten. Andere lassen traditionelle Tauschsysteme wieder aufleben, um den Bargeldmangel zu überwinden und Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. In Indonesien hat eine Fischergewerkschaft in Indramayu, Westjava, eine Initiative gestartet, um mit Bauern Fisch gegen Reis und Gemüse zu tauschen. Dadurch werden die Ernährung und der Lebensunterhalt der verschiedenen Gemeinschaften gesichert. Solange die Restaurants und Märkte geschlossen waren, hatten die Fischer*innen keine Abnehmer.
Die Landwirt*innen können also durchaus von der Nutzung der digitalen Technologie profitieren. Diese Instrumente können ihre Verhandlungsposition stärken, insbesondere wenn sie in Genossenschaften oder anderen kollektiven Strukturen organisiert sind. Dass digitale Plattformen entwickelt werden, um Landwirt*innen und Kleinhändler*innen dabei zu unterstützen, in der Wertschöpfungskette für Lebensmittel besser zu kommunizieren und sich abzustimmen, liegt jedoch nicht im Interesse der Konzerne, die die heutigen digitalen Plattformen im Agrar- und Lebensmittelbereich einführen. Sie nutzen ihre Plattformen vielmehr, um die Preismacht über die Landwirt*innen zu erhöhen und unter die Kontrolle ihrer unsichtbaren Kommandozentralen zu stellen. Das ist vergleichbar mit dem, was Uber mit Taxis gemacht hat.
Frische Lebensmittel sind eine Goldgrube für E-Commerce-Giganten. Zwischen 2012 und 2016 wuchs der chinesische Online-Einzelhandelsmarkt für frische Lebensmittel von unter 580 Millionen auf fast 13,2 Milliarden US-Dollar. Allein 2016 war ein Wachstum von 80 Prozent zu verzeichnen. Während Covid-19 weltweit Verwüstungen anrichtet, erzielen E-Commerce-Unternehmen wie Amazon oder Alibaba historische Gewinne. Jeff Bezos, CEO und Gründer von Amazon, hat sein persönliches Vermögen Berichten zufolge auch durch den Anstieg der Lebensmittelverkäufe im Jahr 2020 um 75 Milliarden US-Dollar gesteigert. JD.com, Chinas zweitgrößtes E-Commerce-Unternehmen, verzeichnete im Januar 2020 einen Anstieg des Transaktionsvolumens um 374 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres.
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Von der Online-Plattform zum Lebensmittelmarkt
Diese Unternehmen versuchen, sich in Ländern zu behaupten, in denen der Lebensmitteleinzelhandel noch weitgehend in den Händen kleiner Händler*innen und/oder staatlich regulierter Großhandelssysteme liegt. Gezielt werben sie für digitale Plattformen als bevorzugte Vermarktungsoption für Landwirt*innen und verbergen dabei ihre eigenen Ambitionen, Monopole herzustellen.
In Indien zum Beispiel, wo seit Jahren ein harter Kampf geführt wird, um die großen globalen Einzelhandelsketten aus dem Land zu halten, erobern die Konzerne nun den Bereich über den elektronischen Handel. Heute kontrollieren Walmart und Amazon fast zwei Drittel des indischen digitalen Einzelhandelssektors. Und immer mehr Unternehmen wollen sich ein Stück des wachsenden digitalen Einzelhandelsmarktes sichern. Im Jahr 2020 verpflichteten sich Facebook und der US-amerikanische Private-Equity-Riese KKR, über sieben Milliarden US-Dollar in Reliance Jio zu investieren, den digitalen Zweig eines der bedeutendsten Einzelhandelsunternehmen Indiens.
Doch die E-Commerce-Branche beschränkt sich nicht auf den Online-Verkauf. Sie weitet ihr Geschäft jetzt auch auf den stationären Einzelhandel aus. Im Gegensatz zu den Vorhersagen vor einigen Jahren haben sie begonnen, physische Geschäfte zu eröffnen, insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel.
Fusionen und Übernahmen zwischen konventionellen Supermarktketten und E-Commerce-Unternehmen wurden nach der 13,7 Milliarden US-Dollar schweren Übernahme von Whole Food Market durch Amazon im Jahr 2017 deutlich sichtbar. Es folgte die Einführung von Amazon Go, dem unbemannten Mini-Markt, in dem die Kunden mittels automatischen Scans ohne Registrierkasse über eine App bezahlen. Alibaba, Chinas größtes E-Commerce-Unternehmen, investierte 12,7 Milliarden US-Dollar in den stationären Einzelhandel und zusätzlich in eine eigene Farm, um eine sichere Versorgung zu gewährleisten.
Die rasante Ausbreitung des elektronischen Handels in relativ kurzer Zeit stellt für kleine Lebensmittelproduzent*innen, lokale Märkte, Straßenhändler*innen und die Arbeiter*innen entlang der Wertschöpfungskette eine große Herausforderung dar. Digitale Plattformen verdrängen traditionelle Wertschöpfungsketten und schaffen ein geschlossenes Umfeld, in dem Inputs, Kredite, Logistik und Märkte zentral kontrolliert werden. Konkret bedeutet dies, dass die Konzerne, die die Agrarindustrie mit Pestiziden, Saatgut und Traktoren beliefern, mit den digitalen Plattformen und Einzelhändlern verschmelzen. Die großen Lebensmittelvertriebsplattformen setzen zunehmend Software mit künstlicher Intelligenz (KI) ein, um Daten auf der Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe zu sammeln – einschließlich Betriebsgröße, Standort, Alter des (Baum-)Bestands, wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Infrastruktur. Dadurch drücken sie die Preise und maximieren ihre Gewinne. Anstatt den Landwirt*innen beim Zugang zu neuen Märkten zu helfen, erleichtert all dies ihre Ausbeutung.
Die Konzerne wissen, wer was kaufen will
Davon profitieren auch die Anteilseigner und Führungskräfte der riesigen E-Einzelhandelsunternehmen. E-Commerce-Unternehmen bezeichnen ihre Arbeiter*innen oft als „Partner“, obwohl diese unter widrigen und unsicheren Bedingungen arbeiten müssen. Damit entziehen sich die Konzerne ihnen gegenüber der Verantwortung.
Die Verflechtung zwischen Lebensmittel- und Online-Unternehmen ist auch ein fruchtbarer Boden für neue Technologien wie unbemannte Läden und den Einsatz von KI zur Beeinflussung des Verbraucherverhaltens durch Verbraucherdaten und Analysen. In der Einzelhandelsbranche wird zunehmend genutzt, was als Personalisierung von Käufer*innen bekannt ist. Die großen Lebensmittelvertriebsplattformen setzen KI-Software ein, um unsere Lebensmittelvorlieben vorherzusagen und uns dazu zu bringen, mehr zu kaufen. Mehr als drei Viertel der großen Einzelhändler weltweit haben entweder bereits KI-Systeme im Einsatz oder planen, sie in Kürze zu installieren, so die Marktforschungsgruppe Gartner. Die Pandemie hat diesen Trend beschleunigt, weil sie die Verbrauchergewohnheiten dramatisch verändert hat.
Für die Kund*innen, die ihre Lebensmittel online kaufen, mag das harmlos und bequem klingen. Für die Unternehmen jedoch bedeutet diese personalisierte Ansprache mehr Umsatz, mehr Gewinn und die Festigung ihrer Marktmacht. Außerdem ergeben sich ernsthafte Bedenken, wenn die personalisierte Profilerstellung im Zusammenhang mit dem Online-Einkauf zum Mainstream wird. Wer kontrolliert die riesigen Datenmengen, die gesammelt werden? Und was wird mit ihnen gemacht?
Für die kleinen Lebensmittelproduzent*innen bedeutet dies nicht nur, dass sie in eine missliche Lage geraten, wenn sie die Künstliche Intelligenz nicht durchdringen, sondern auch, dass das agroindustrielle Modell stärker in den Vordergrund rückt. Denn der elektronische Handel verstärkt die Verflechtung von Unternehmen, die den Landwirt*innen Produkte liefern, sowie Unternehmen, die den Datenfluss kontrollieren und Zugang zu den Verbraucher*innen haben.
Aus dem Englischen von Tobias Lambert
Grain ist eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Barcelona, die sich für kleinbäuerliche Landwirtschaft einsetzt. Für weitere Informationen ist Kartini Samon, Grain-Mitarbeiterin in Jakarta, Indonesien, unter kartini@grain.org erreichbar.
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