Mehr als 2.000 Menschen sind dieses Jahr bis November bei dem Versuch ums Leben gekommen, das Mittelmeer zu überqueren. 1.267 von ihnen starben auf der zentralen Route zwischen Libyen und Italien. Seit Februar 2016 hat die Aquarius in diesem Gebiet etwa 30.000 Menschenleben gerettet. Betrieben wird das Schiff von SOS Méditerranée, die medizinische Versorgung an Bord gewährleistet Ärzte ohne Grenzen. Im Südlink-Interview spricht Crew-Mitglied Viviana Di Bartolo über die Arbeit an Bord, die Koordinierung der Einsätze und die Kriminalisierung der Seenotrettung.

Wie sind Sie dazu gekommen, auf einem Rettungsschiff zu arbeiten?
Ich bin auf Sizilien an der Küste geboren und aufgewachsen. Rettungsschwimmerin bin ich zunächst aus ganz praktischen Gründen geworden, etwa damit meine Kinder am Strand sicherer sind. Vor ein paar Jahren habe ich dann in einem Aufnahmezentrum für Geflüchtete auf Sizilien gearbeitet. Dort ging es vor allem um administrative Aufgaben, aber ich kam mit vielen Geflüchteten in Kontakt und habe auch Italienischunterricht gegeben. Aufgrund dieser Arbeit machte ich anschließend einen Master im Bereich Menschenrechte in Bologna. Dort arbeitete ich auch in einem Aufnahmezentrum und habe mich zudem bei SOS Méditerranée engagiert. So kam ich letztlich zur Seenotrettung und gehöre heute zum festen Team der Aquarius.

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Südlink 186 - Das Mittelmeer
Zwischen Austausch und Abgrenzung | Dezember 2018
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Südlink 186 - Das Mittelmeer
Zwischen Austausch und Abgrenzung | Dezember 2018
Ein frühes Labor der Globalisierung, eine Brücke für Ideen und Wissen, ein Ort der Vermittlung zwischen Europa und Afrika. Schon seit den Frühzeiten gab es im Mittelmeer einen regen Austausch zwischen Nord und Süd. Aber wie sieht es heute damit aus? Um das Mittelmeer…

Seit Anfang 2016 hat die Aquarius 30.000 Menschen aus Seenot gerettet. Wie läuft eine Rettung konkret ab?
Die zuständige Seenotleitstelle beauftragt uns mit der Rettung, nachdem entweder wir selbst einen Notfall gemeldet haben oder ein anderes Schiff dies getan hat. Wir kontaktieren dann die Menschen auf dem in Seenot geratenen Boot, indem wir mit einem Beiboot an sie heranfahren und uns einen ersten Überblick über die Situation verschaffen. Nachdem wir Rettungswesten verteilt haben, nehmen wir die Menschen nacheinander an Bord. Zuerst medizinische Notfälle, dann Kinder und Frauen, zum Schluss die Männer.

Anschließend versorgt das Team von Ärzte ohne Grenzen die Geretteten medizinisch, außerdem bekommen sie Kleidung und Nahrung. Wir dokumentieren ihre Geschichten und bringen sie dann in einen sicheren Hafen, den uns die Seenotleitstelle mitteilt. Seit Italien die Koordinierung der Seenotrettung im Juni an Libyen abgegeben hat, haben sich die Bedingungen aber deutlich verändert.

Inwiefern?
Alle internationalen Gewässer sind in Zonen aufgeteilt, in denen jeweils ein Land die Seenotrettung koordiniert [Search and Rescue-Zonen nach internationalem Seerecht, Anm. d Red,]. Früher war Italien für die Rettungseinsätze in den internationalen Gewässern zwischen Libyen und Italien zuständig. Dies deckte das Gebiet außerhalb der libyschen Territorialgewässer ab, in dem die meisten Boote in Seenot geraten.

Nach einem Notruf standen wir mit der italienischen Seenotleitstelle MRCC in Kontakt. Diese entschied auch, welche Schiffe bei Rettungseinsätzen jeweils zusammenarbeiten, Gerettete übernehmen und in welchen Hafen diese gebracht werden sollten. Doch seit die libyschen Behörden zuständig sind, wissen wir nie so genau, mit wem wir es zu tun haben. Mal treten sie höflich auf, mal aggressiver.

 

Welche Erfahrungen haben Sie konkret mit der libyschen Seenotleitstelle gemacht?
Meine eindrücklichste Erfahrung ist vom April dieses Jahres. Die italienische MRCC informierte uns über ein in Seenot geratenes Boot. Kurz bevor wir die entsprechenden Koordinaten erreicht hatten, meldeten sie sich erneut und teilten uns mit, dass sie die Koordinierung dieses Einsatzes an Libyen übergeben hätten. Wir sollten auf die libysche Seenotrettung warten und nicht selbst tätig werden.

In solch einer Situation gilt es aber, keine Zeit zu verlieren, da man nicht weiß, wie die Bedingungen an Bord des in Seenot geratenen Schiffes genau sind. Laut internationalem Seerecht muss im Seenotfall unverzüglich gerettet werden. Nachdem wir vier Stunden lang vergebens gewartet hatten, bekamen wir die Erlaubnis, den medizinischen Zustand der Bootsinsassen zu überprüfen. Es gelang uns, Frauen und Kinder an Bord zu nehmen. Bevor wir auch die anderen Menschen an Bord nehmen konnten, traf das libysche Schiff ein und nahm die übrigen Personen mit. Es war absolut frustrierend zu sehen, wie die Menschen dorthin zurückmussten, von wo sie geflohen waren. Wir als Rettungsteam waren demgegenüber komplett hilflos. Die libysche Küstenwache ist bewaffnet.

Haben Sie erfahren, was mit ihnen danach passiert ist?
Nein, es ist sehr schwierig bis unmöglich herauszufinden, was mit den Menschen in so einem Fall geschieht. Die einzige Information, die man bekommen kann, ist, in welchem Hafen sie an Land gegangen sind. Aber die Menschen haben häufig keine Papiere und wir wissen oft nicht, wo in Libyen sie inhaftiert werden. Das ist besonders tragisch, weil häufig, so wie in diesem konkreten Fall, auch Familien getrennt werden.

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Die Aquarius liegt seit Oktober im Hafen von Marseille, weil Panama ihm auf Druck Italiens die Flagge entzogen hat. Einige europäische Politiker*innen wollen die private Seenotrettung am liebsten dauerhaft unterbinden. Ein häufiger Vorwurf lautet, zivile Rettungsschiffe seien ein Pull-Faktor, sorgten mit ihrer Anwesenheit also dafür, dass mehr Menschen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagten. Stimmt das?
So eine Kritik soll unsere Arbeit delegitimieren und die Solidarität mit den Menschen verringern, die sich auf die gefährliche Flucht über das Mittelmeer machen. Auch in den vergangenen Wochen, als gar keine Rettungsschiffe unterwegs waren, kam es zu Notfällen auf See. Die Menschen, die gezwungen sind, zu fliehen, steigen so oder so auf ein Boot. Weil die Lage in Libyen katastrophal ist. Den Schleppern ist das egal, ihr einziges Interessen besteht darin, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Wenn aber keine Rettungsschiffe auf dem Meer sind, kann niemand die Menschen retten und es geraten auch kaum Informationen über die gesunkenen und gekenterten Schiffe an die Öffentlichkeit. Für mich stellt sich die Frage auch gar nicht. Ich empfinde es als unsere Verpflichtung, Menschenleben zu retten. Rechtlich und moralisch. Zu sagen, wir seien ein Pull-Faktor und sollten deshalb nicht rausfahren, führt nur zu einem einzigen Ergebnis: Es sterben mehr Menschen. Oder sie werden zurück nach Libyen in den Kreislauf der Gewalt gebracht. Wir tun daher alles dafür, unsere Arbeit fortsetzen zu können, und suchen weiterhin nach einer neuen Flagge.

Was erwarten Sie von den europäischen Regierungen?
Ich wünsche mir keine aktive Unterstützung, sondern ganz einfach, dass die Politiker das Gesetz respektieren. Das internationale Seerecht ist in diesem Punkt sehr simpel und eindeutig: Es besteht die Pflicht, Menschen zu helfen, die in Seenot geraten. Und der Schutz der Menschenrechte gebietet es, die Menschen in einen sicheren Hafen zu bringen und nicht dorthin zurückzuschicken, wo sie in Gefahr sind. Auch das UNHCR hat kürzlich nochmal ganz deutlich gesagt: Libyen ist kein sicherer Ort für im Mittelmeer gerettete Menschen.

In der Vorstellungswelt der meisten Menschen rangiert das Mittelmeer mittlerweile irgendwo zwischen Sehnsuchtsort und Massengrab. Hat sich ihr Bild vom Meer durch die Erfahrungen der vergangenen Jahre gewandelt?
In Italien denken wir an das Meer zuallererst als einen Ort der Freude und um das Leben zu genießen. Natürlich erzeugt das Mittelmeer heute auch schreckliche Assoziationen, aber ich akzeptiere nicht, dass es darauf beschränkt wird. Für Leute, die es schaffen, es zu überqueren, repräsentiert das Meer ihr Tor zum Überleben.

Aber das Meer ist tatsächlich nicht nur positiv, man muss Respekt vor ihm haben. Ich habe Leute schreien gehört, ertrinken gesehen und hoffe, dass dies nie wieder vorkommt und eine Lösung gefunden wird. Aber trotz allem liebe ich das Meer und habe eine sehr enge Verbindung zu ihm. Wenn ich zu Hause bin, gibt es mir viel Frieden. Ich verstehe nicht, wenn Leute nicht sehen, welche Magie vom Meer ausgeht.

Das Interview führte Tobias Lambert im November. Übersetzung aus dem Englischen.

Weitere Informationen zur Arbeit von SOS Mediterranée finden Sie hier.
Eine aktuelle Petition zur Unterstützung der Aquarius findet sich hier.

Zur Autorin

Viviana Di Bartolo gehört zum festen Team der Aquarius. Wenn sie nicht auf See ist, lebt sie an der sizilianischen Küste.

Viviana Di Bartolo gehört zum festen Team der Aquarius. Wenn sie nicht auf See ist, lebt sie an der sizilianischen Küste.

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