Ein umstrittener Gipfel
Kann der Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen entscheidende Impulse für eine nachhaltige Agrar- und Ernährungswende geben?
Dass weltweit der Übergang zu einer nachhaltigen Landwirtschaft gelingen muss, darüber sind sich viele Organisationen einig. Der Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen (UN Food Systems Summit) am 23. September in New York widmet sich dem Thema Ernährungssysteme. Von kleinbäuerlichen Aktivist*innen bis hin zur Agrarlobby reicht das Spektrum derer, die in die Vorbereitung des Gipfels einbezogen waren. Wegen des zu großen Einflusses großer Unternehmen auf die Gipfel-Agenda haben sich zahlreiche Organisationen inzwischen dazu entschieden, dem Treffen fernzubleiben.
PRO
Alle Interessengruppen zusammenbringen
Zum Vorgipfel des UN Food Systems Summit in Rom kamen Ende Juli (vor allem virtuell) Interessenvertreter*innen aus allen Weltregionen zusammen. Das Ziel war, über die Neuausrichtung und Verbesserung unseres Ernährungssystems zu beraten. Zuvor waren über 2.200 Ideen über Dialog-Foren und Online-Konsultationen eingegangen. Sie kamen von Regierungsvertreter*innen, der Zivilgesellschaft, der Jugend, von Lebensmittelproduzent*innen, Farmer*innen und Fischer*innen, der Forschung und der Wissenschaft, indigenen Gruppen, aus dem Privatsektor und aus UN-Organisationen. Aus diesem Prozess gingen rund 50 Arbeitsgruppen hervor, die sich intensiv mit der Weiterentwicklung von Lösungen für eine Ernährungswende einsetzen (Lösungscluster). Auf dem Vorgipfel wurden sieben Koalitionen vorgestellt, die Schlüsselthemen zusammenfassen. Darüber hinaus sollte der Fokus aber weiterhin auch auf den anderen Themenbereichen liegen.
Aus Sicht des an diesen Konsultationen beteiligten WWF gilt es jetzt, das Engagement und die Interessen aller Beteiligten zu stärken und den eingeschlagenen Weg auszubauen und in konkrete Aktionen zu überführen. Hierfür sind mehrere Schritte entscheidend:
Mittlerweile zweifelt niemand mehr daran, dass unser jetziges Ernährungssystem gravierende Auswirkungen auf Natur und Klima hat und nicht dazu beiträgt, die Zahl der Hungernden zu verringern. Die Produktion unserer Lebensmittel verursacht derzeit 80 Prozent der Entwaldung, 70 Prozent des Verlusts an biologischer Vielfalt auf dem Land und 50 Prozent im Süßwasser sowie rund 30 Prozent aller Treibhausgasemissionen. Was wir dringend benötigen, ist ein systemischer und transformativer Ansatz von der Produktion bis zu den Endverbraucher*innen. Die Diskussionen im Vorfeld der Konferenz in Rom haben bereits zu einer Stärkung wichtiger Ansätze wie Agrarökologie, Fisch als Proteinquelle sowie des Bodenschutzes geführt. Aber auch Diskussionen zum Abbau schädlicher Subventionen wurden aufgegriffen. Neben den Menschenrechtsfragen ist die Umweltdimension von zentraler Bedeutung. Denn nur nachhaltige und naturverträgliche Ernährungssysteme zu gewährleisten, führt zu einer längerfristigen Ernährungssicherheit und verhindert vermeidbare Konflikte und den Verlust von Lebensgrundlagen.
Der Gipfel als Katalysator, um den Hunger zu stoppen
Um dies auf regionaler, nationaler und globaler Ebene erfolgreich umzusetzen, muss die Beteiligung aller weiterhin gewährleistet werden. Bereits im Vorfeld des Gipfels wurden enorme Anstrengungen unternommen, um unterschiedlichen Stimmen Gehör zu verschaffen. Um die gesetzten Impulse zu verstärken, müssen diese Bemühungen auf dem Weg zum Gipfel in New York noch verstärkt werden. Frauen, Landwirt*innen, indigene Gruppen und lokale Gemeinschaften müssen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Der Gipfel braucht Regierungen für die Umsetzung, darf aber nicht zu einem von Regierungen dominierten Gipfel werden. Innovation lebt von Vielfalt. Die Arbeitsgruppen und Koalitionen bieten eine sehr gute Möglichkeit, um diese Vielfalt sicherzustellen. Für eine Transformation unseres Ernährungssystems müssen aber auch Silo-Denken und einseitiger Lobbyismus beendet werden. Es ist an der Zeit, dass Ernährung übergreifend behandelt wird. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Lösungen muss ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz verfolgt werden, der alle Interessengruppen zusammenbringt, um Machtungleichgewichte zu beseitigen und Interessenkonflikte zu bewältigen. Hierzu zählt vor allem die Integration von Ernährungssystemen in die Biodiversitäts-, Klima- und Landkonventionen. Die nächsten zwölf Monate bieten hierzu viele Möglichkeiten.
Auf dem Vorgipfel wurden von vielen Akteur*innen Vereinbarungen über transformative Prozesse getroffen, die zu einer Verbesserung unseres Ernährungssystems führen sollen. Dies wird aber nur gelingen, wenn die Staatsoberhäupter und andere Interessengruppen sich für zeitlich definierte und überprüfbare Aktionen verpflichten. Bis September müssen konkrete Wege zur Umsetzung aufgezeigt werden. Der Gipfel muss zu einem Katalysator für Maßnahmen werden, die dazu beitragen, den weltweiten Hunger zu stoppen, die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen und den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Eine weitere Dekade folgenloser Vereinbarungen können wir uns nicht leisten.
Abonnieren Sie den Südlink
Im Südlink können Autor*innen aus dem Globalen Süden ihre Perspektiven in aktuelle Debatten einbringen. Stärken Sie ihnen den Rücken mit Ihrem Abo: 4 Ausgaben für nur 18 Euro!
CONTRA
In die falsche Richtung
Der Welternährungsgipfel hält einige Versprechungen bereit: Zum Beispiel neue Strategien und Lösungen zu entwickeln, um den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) näher zu kommen. Oder die Art und Weise zu verändern, wie wir Lebensmittel herstellen, konsumieren und darüber nachdenken. Angesichts des sich verschärfenden Klimawandels, der Coronapandemie, der fortbestehenden Ungleichheit, Armut und des Hungers ist ein Wandel in der Tat dringend nötig. Die Welt muss hin zu nachhaltigen, gesunden Ernährungssystemen geführt werden.
Doch trotz der Werbeaussagen überzeugen die sogenannten Innovationen und Lösungen nicht. Teure, technologische Ideen reproduzieren vielmehr die industriellen, extraktivistischen Ansätze, die für die heutigen Krisen verantwortlich sind.
Im Jahr 2019 schlossen die Vereinten Nationen (UN) eine Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum, die zu einem Kernstück des Gipfels wurde, der nun eine privatwirtschaftliche, unternehmensgesteuerte Transformation der Ernährungssysteme fördert. Das Konzept der Nachhaltigkeit ist hierbei in der Sprache marktbasierter Lösungen formuliert.
Das heißt, die Natur gilt als Einnahmequelle und Gewinnversprechen. Hinter den Begriffen „nachhaltige Intensivierung“ oder „naturfreundliche Produktion“ verbergen sich Dinge wie Biotechnologie, Kohlenstoffmärkte, Präzisionslandwirtschaft, klimafreundliche Landwirtschaft, der Aufbau von Widerstandsfähigkeit durch Big Data, künstliche Intelligenz und digitale Technologien, die sich im Besitz und unter der Kontrolle von Unternehmen befinden. Die Rechte von Gruppen und Gemeinschaften auf Land, Ressourcen und Schutz erhalten hingegen wenig Aufmerksamkeit. Dabei wäre gerade dies wichtig für eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimakatastrophen, Pandemien oder Umweltschäden. Die Agrarökologie – ein dynamisches Lebenssystem aus Wissen, Praktiken und Innovationen kleiner Lebensmittelproduzent*innen – wird in einem „Werkzeugkasten“ mit anderen investorenfreundlichen Lösungen gebündelt, die mit grünen Etiketten versehen sind.
Den Gipfel dominieren Unternehmensinteressen
Die Koalitionen mit der Privatwirtschaft bergen die Gefahr, dass dringend benötigte Finanzmittel von öffentlichen Programmen, Gütern und Dienstleistungen abgezogen werden, um in die Förderung privater Investitionen für „technische Lösungen“ zu fließen. Ebenso besorgniserregend ist die Gefahr, dass sich Unternehmen die biologische Vielfalt, das Wissen und die Praktiken aneignen, die Generationen von Kleinerzeuger*innen von Lebensmitteln in verschiedenen Landschaften und Ökosystemen gepflegt haben.
Es sind Unternehmensinteressen, die den Food Systems Summit dominieren. Vertreten werden diese durch Plattformen wie das Weltwirtschaftsforum, die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA), das International Agri-Food Network (IAFN), den World Business Council for Sustainable Development (WCBSD), die Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN), das EAT Forum und das Scaling-Up Nutrition Business Network (SBN). Hinzu kommen führende Philanthropie-Unternehmen wie die Rockefeller Foundation, die Gates Foundation und die Stordalen Foundation. Die Präsidentin von AGRA, Agnes Kalibata, fungiert als UN-Sonderbotschafterin für den Gipfel.
Dieser fördert unternehmensfreundliche Multistakeholder-Plattformen als primäre Modelle der Regierungsführung, die öffentliche Institutionen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene ersetzen, wirksame Systeme der Rechenschaftspflicht schwächen und die UN in die Hände von Unternehmen legen. Eine solche Multistakeholder-Governance stellt reiche Unternehmen und privatwirtschaftliche Einrichtungen, Regierungen und andere staatliche Institutionen (wie das Militär), kleine Lebensmittelproduzenten, Arbeiter*innen, indigene Gemeinschaften, arme Frauen und Jugendliche auf eine Stufe.
Dies ignoriert historisch tief verwurzelte Machtasymmetrien, die Rechtsverletzungen ermöglichen. Es verwischt die Unterscheidung zwischen Pflichtenträgern (Regierungen) und Rechteinhabern (Menschen) und verbirgt Interessenkonflikte, die wirksame Rechenschaftssysteme schwächen. Die internationalen Verpflichtungen der Staaten, die Rechte der Menschen zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen und die dringend notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Klimawandel, Umweltschäden, Hunger, Armut und Ungleichheit zu ergreifen, werden so untergraben.
Multistakeholder-Gouvernance ermöglicht es Unternehmen und Regierungen, sich der materiellen und rechtlichen Haftung für die von ihnen begangenen Schäden zu entziehen und weiterhin Verbrechen gegen Arbeiter*innen, Bäuerinnen und Bauern, indigene Gruppen und die Umwelt zu begehen.
Viele der Probleme, mit denen die Welt heute konfrontiert ist, haben ihren Ursprung in industriellen, monokulturellen und globalisierten Ernährungssystemen. Es bedarf eines tiefgreifenden Wandels, um diese Lebensmittelsysteme in Richtung Ernährungssouveränität, Agrarökologie, Menschen- und Gemeinschaftsrechte, Geschlechter-, Klima-, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit sowie planetarische Gesundheit zu verändern. Bedauerlicherweise bewegen wir uns mit dem Food Systems Summit nicht in diese Richtung.
Aus dem Englischen von Tobias Lambert
Martina Fleckenstein arbeitet bei WWF International als Global Policy Manager für Food Practice
Shalmali Guttal ist Direktorin von Focus on the Global South und arbeitet in deren Büro in Bangkok
Martina Fleckenstein arbeitet bei WWF International als Global Policy Manager für Food Practice
Shalmali Guttal ist Direktorin von Focus on the Global South und arbeitet in deren Büro in Bangkok