Die Welt nach Corona
Ein Jahr nach Beginn der Covid-19-Pandemie ist offensichtlicher denn je, dass wir eine Abkehr vom Elend der bisherigen Normalität benötigen.
Was hat die Welt aus der Coronakrise gelernt? Immerhin, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Allenthalben wurde Solidarität beschworen. Doch viel zu selten wurde sie auch geübt, und der globale Süden hatte einmal mehr das Nachsehen. Zugleich schreitet die ökologische Katastrophe voran und vertieft sich die soziale Spaltung noch weiter. Dabei wäre eine andere Globalisierung machbar. Denn auch dies hat das vergangene Jahr gezeigt: Die Mittel für eine Wende hin zu einer menschlicheren Weltgesellschaft sind vorhanden. Ein Aufruf zum Handeln.
Brennende Wälder, Hungersnöte, eskalierende Gewalt und dann auch noch eine weltumspannende Seuche: Die globale, auch hierzulande voranschreitende sozial-ökologische Zerstörung hat im vergangenen Jahr vielen die Augen geöffnet. Sie haben verstanden, dass sich ein „Weiter so!“ verbietet. Plötzlich schien sogar möglich, was lange als utopisch galt: Das Recht auf Gesundheit dominierte über ökonomische Interessen, die Pflegearbeit erfuhr Wertschätzung und die „schwarze Null“ war nicht mehr sakrosankt. Selbst hartgesottene Neoliberale, die jahrzehntelang der Maxime Margret Thatchers gefolgt waren, dass es gar keine Gesellschaftlichkeit gebe, mussten einsehen, dass die Gestaltung intakter Gemeinwesen eine gesellschaftspolitische Aufgabe ist, die nicht allein den Kräften des Marktes überlassen werden kann.
So weit, so gut. Doch schauen wir genauer hin, macht sich Ernüchterung breit. Obwohl von Anfang an klar war, dass das Coronavirus seine Schrecken erst dann verlieren würde, wenn es überall auf der Welt bekämpft ist, fiel das internationale Engagement des globalen Nordens eher bescheiden aus. Anders als in den wohlhabenden Ländern, wo rasch milliardenschwere Rettungsschirme aufgespannt werden konnten, blieben die Menschen im globalen Süden weitgehend sich selbst überlassen. Kaum waren hier die Boutiquen geschlossen, stornierte die Bekleidungsbranche ihre Aufträge und verloren die Textilarbeiter*innen in Asien ihre Jobs.
Der Appell zur Solidarität zielte fast nur auf die eigene Bevölkerung. Gefragt war die Solidarität zwischen Jung und Alt; Solidarität in der Nachbarschaft, in der Betreuung von Kindern, mit den Frauen an den Supermarktkassen. Leiser wurde es hingegen, wenn es um den Schutz der zu uns Geflüchteten ging. Gänzlich ungehört blieb der Vorschlag des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP), drei Milliarden Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika ein Grundeinkommen zu zahlen, damit auch sie die empfohlenen Hygienemaßnahmen einhalten könnten. Das klingt nach viel Geld. Doch allein die vorübergehende Aussetzung des Schuldendienstes hätte ausgereicht, um die Kosten dafür zu tragen.
Schon zu Beginn der Krise warnte UN-Generalsekretär António Guterres, dass Corona die globale soziale Ungleichheit verschärfen würde. Genau das ist eingetreten. Während Millionen von Menschen im Süden um ihre Existenz fürchten müssen, ist der Club der Superreichen reicher geworden. Vor allem Anleger*innen, die in den Bereichen Technologie, Gesundheitswesen und Finanzwesen investiert haben, machen gerade Super-Gewinne. Andere, aus ökologischer Sicht höchst problematische Wirtschaftszweige, wie die Auto- und Luftfahrtindustrie überleben nur, weil sie mit Milliarden subventioniert werden. Dabei müssten zur Bekämpfung des globalen Krisengeschehens die bestehenden Produktionsverhältnisse umgebaut werden.
Auch der Ausbruch von neuartigen Infektionskrankheiten ist in deren Zusammenhang zu sehen. Das Risiko für Zoonosen, bei denen Viren von (Wild)-Tieren auf Menschen überspringen, wächst ist in dem Maße, wie weltweit Wälder für die Rohstoffgewinnung oder für weitere Weideflächen gerodet werden. Und so zeigt sich auch im Brennglas der Coronakrise, dass der global entfesselte Kapitalismus, der sich auf Wachstum und Konkurrenz, statt auf Bewahrung der Umwelt und Solidarität gründet, für ein menschenwürdiges Zusammenleben nicht sorgen kann.
Zeit für eine radikale Umkehr
Angesichts des prekären Zustands der Welt ist es höchste Zeit für eine radikale Umkehr. Gefordert ist nichts Geringeres als die Neuausrichtung menschlicher Lebenswelten am Grundsatz einer bewahrenden Sorge, sowohl füreinander als auch für die Umwelt, im eigenen Lande wie auch grenzüberschreitend und global. Alle gegenwärtigen Bemühungen, das globale Krisengeschehen zu bewältigen, leiden an einem fundamentalen Widerspruch. Mit der Ausbreitung des Weltmarkts bis in den entferntesten Winkel der Erde wurde die Welt zwar zu einem einheitlichen System integriert, doch fehlen ihr die politischen und rechtlichen Institutionen, die für die Gestaltung menschenwürdiger Lebensumstände sorgen könnten. Auf bemerkenswerte Weise ist die Globalisierung unvollendet geblieben. Internationale Abkommen regeln zwar den freien Kapital- und Warenverkehr, nicht aber den Schutz der Gesundheit oder eine wirksame Bekämpfung der Hungers.
Leidvoll müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass Artikel 28 der nun über 70 Jahre alten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, der allen eine „soziale und internationale Ordnung“ verspricht, in der die Menschenrechte verwirklicht sind, noch immer nicht umgesetzt ist. Aber statt nun endlich Ernst zu machen, ist das Gegenteil der Fall. Man könne doch in Krisenzeiten die eigene Wirtschaft nicht noch zusätzlich belasten, befand die Bundesregierung, als sie im letzten Jahr ein Gesetz stoppte, das transnationale Unternehmen auf die weltweite Einhaltung der Menschenrechte verpflichten wollte. Die Menschenrechte eine Belastung? Deutlicher kann das Elend einer Normalität, in der zwar oft von globaler Verantwortung die Rede ist, aber letztlich nur das Eigene zählt, nicht zum Ausdruck kommen.
Die Welt nach Corona steht am Scheideweg. Sie wird entweder weiter zerfallen, oder sie wird lernen, Solidarität als gemeinsame Verpflichtung für die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte zu verstehen. Die Vorstellung, sich in der global zusammengerückten Welt auf einzelne Wohlstandsinseln zurückziehen zu können, führt in die Irre. Längst steht fest, dass die Lebenswelten der Menschen, so unterschiedlich sie sein mögen, vielfältig miteinander verschränkt und voneinander abhängig sind. Diese im Werden begriffene Weltgesellschaft heute politisch und rechtlich zu verfassen, ist die große Aufgabe, die vor uns liegt. Nicht nationale Abschottung ist gefragt, sondern solidarischer Kosmopolitismus.
Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind enorm. Sie anzugehen, erfordert zuallererst die Entfaltung eines neuen Verständnisses von Gesellschaft, das sich einerseits von nationalstaatlichen Einengungen löst und zugleich die Idee der Freiheit mit dem Bedürfnis nach Sicherheit versöhnt. Gerade in Krisenzeiten erfahren wir, wie eng Eigenverantwortung und Solidarität beieinander liegen. Selbstbestimmung und öffentliche Daseinsvorsorge sind keine Gegensätze, wie uns der Neoliberalismus glauben machen wollte, sondern bedingen einander. Um die prekären Folgen von vier Jahrzehnten marktradikaler Politik zu beseitigen, bedarf es heute einer (Re-)Konstruktion von Gesellschaftlichkeit, die angesichts der globalen Wirklichkeit, in der wir leben, nur eine universelle, vom Nationalen gelöste sein kann.
In seinem griechischen Ursprung steht das Wort crisis für die „entscheidende Wendung“, und genau der bedarf es heute. Es ist höchste Zeit, das aus den Fugen geratene Verhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und sozialen Sicherheitsbedürfnissen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, und zwar grenzüberschreitend, für alle.
Auf dem Weg zu einer solidarischen Weltgesellschaft
Mit herkömmlicher Entwicklungszusammenarbeit, die in der Regel doch nur den Interessen der Geber dient, ist diese Aufgabe nicht zu erfüllen. Auch nicht mit humanitärer Hilfe, die lediglich die schlimmsten Auswüchse bestehenden Unrechts abfedern kann. Die Welt nach Corona verlangt einen anderen Ansatz. Mit Blick auf den erreichten Globalisierungsgrad bedarf es einer Weltsozialpolitik, die über alle Grenzen hinweg für Ausgleich sorgt und tätige Teilhabe ermöglicht. Bekanntlich sind die Menschenrechte wenig wert, wenn sie nicht materiell unterfüttert sind. Notwendig sind globale gesellschaftliche Institutionen, die Menschen vor den Verletzungen ihrer Rechte schützen und zugleich für Lebensumstände sorgen, in denen sie sich frei entfalten können. Nicht nur im eigenen Land, sondern überall.
So utopisch solche Verhältnisse klingen – sie könnten längst verwirklicht sein. Es mangelt nicht an Ressourcen, um heute universell geltende Arbeits- und Sozialstandards völkerrechtlich festzulegen und zugleich auch institutionell durchzusetzen. Längst wäre es möglich, global agierende Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte zu verpflichten und Verstöße wirkungsvoll zu sanktionieren. Selbst die Sicherstellung eines universellen Grundeinkommens oder die Einführung einer globalen Bürgerversicherung müssten nicht mehr in eine ferne Zukunft vertagt werden.
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Über einen weltweiten Länderfinanzausgleich könnte schon heute allen Menschen der Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung ermöglicht werden. Gesundheit als ein globales öffentliches Gut zu betrachten – das liegt mit Blick auf die akute Coronakrise nahe. Politiker*innen aller Couleur sprechen davon, doch nur die wenigsten scheinen bereit, den Patentschutz für essenzielle Medikamente und Impfstoffe auch nur für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Die Entscheidung über einen von Indien und Südafrika in die Welthandelsorganisation WTO eingebrachten entsprechenden Vorschlag wurde auf Druck von „Big Pharma“ zuletzt immer wieder verschoben.
Aber sind es nur die Zwänge der bestehenden kapitalistisch geprägten Wirtschaftsordnung, die einer auf solidarischen Ausgleich bedachten Weltsozialpolitik entgegenstehen? Oder ist es nicht auch die hierzulande von vielen geteilte Annahme, man könne die eigene Freiheit, den eigenen Wohlstand, dauerhaft auf Kosten anderer sichern?
So verführerisch die Rückkehr in „Vor-Corona-Zeiten“ klingt, sie wäre fatal. Und so liegt es zuallererst an uns, die Lehren aus der Coronakrise zu ziehen. Es gilt eine kosmopolitische Solidarität zu entfalten, die sich auch auf die richtet, die uns fremd sind und womöglich ganz andere Lebensstile pflegen. Weltgesellschaft meint nicht die disziplinierende Vereinheitlichung allen Lebens, sondern die Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit und damit die Begegnung freier Menschen auf gemeinsamem Grund.
Thomas Gebauer war langjähriger Geschäftsführer von medico international und arbeitet heute als freier Autor.
Thomas Gebauer war langjähriger Geschäftsführer von medico international und arbeitet heute als freier Autor.