Die Ambivalenz des Digitalen
Politische Regulierung würde die Chancen auf Teilhabe für den globalen Süden erhöhen
Zoom-Meetings, Online-Handel, smarte Landwirtschaft, Industrie 4.0. Die Digitalisierung hat vielfältige Auswirkungen auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Wie abhängig wir von digitalen Tools und der dahinterstehenden Infrastruktur sind, führt uns nicht zuletzt die Coronakrise tagtäglich vor Augen. Vor allem aber zeigt sich, dass wir dringend eine politische und gesellschaftliche Regulierung der Digitalisierung benötigen. Nur dann wird sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer Mehrheit der Bevölkerung verbessern – vor allem auch im globalen Süden.
Der Siegeszug der Digitalisierung startete Mitte der 1990er Jahre mit den Cyber-Utopisten des Silicon Valley und ist heute weltweit zur programmatischen Zielsetzung von Wirtschaft, Politik, Bildungseinrichtungen und anderen gesellschaftlichen Akteuren geworden. Auch die staatliche Entwicklungszusammenarbeit sieht in der Digitalisierung in erster Linie eine Chance zum Gelingen von nachhaltiger Entwicklung. „Neue Technologien beschleunigen unser Leben, machen es transparenter und effizienter. Mehr Menschen können mehr Wissen teilen. Wertschöpfungsketten werden neugestaltet und Unternehmergeist in Garagen geweckt“, erklärte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller bereits 2017. Eine Programmatik, auf die sich die Staatengemeinschaft in der Agenda 2030 verpflichtet hat: nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle zu fördern – insbesondere im globalen Süden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die staatliche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ und die Weltbank erwarten, dass die Digitalisierung auch und gerade für ärmere Menschen in Ländern des globalen Südens wichtige Entwicklungschancen eröffnet, indem sie Handels- und Wirtschaftsbeziehungen vertieft und zur Einkommensentwicklung beiträgt.
In der Tat bieten digitale Technologien hierfür großes Potenzial. Das zeigen auch die zahlreichen digitalen Start-ups, die in den vergangenen 15 Jahren im globalen Süden entstanden sind. Digitalisierung schafft neue Beschäftigungsverhältnisse und Möglichkeiten des Handels. Doch damit alle davon profitieren können, müssen die politischen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung fair und verantwortungsvoll gestaltet werden. Ohne eine gezielte politische Gestaltung wird es nicht gelingen, die Chancen der Digitalisierung für die Mehrheit der Menschen zu nutzen und die mit ihr verbundenen Risiken einzuhegen.
Auswirkungen der Digitalisierung
Menschen mit Internetzugang und hinreichender Qualifikation bietet die digitale Ökonomie zahlreiche Möglichkeiten, ein eigenes Einkommen zu erzielen. Bildung kann hier zu einem entscheidenden Faktor werden. So wurden beispielsweise in Usbekistan, wo 25 Prozent der 16- bis 29-Jährigen ohne Arbeit sind, landesweit zunächst 32 Berufsschulen von Expert*innen für Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) modernisiert. Dabei entstanden 12.000 Ausbildungsplätze für IKT-Fachkräfte. Über 80 Prozent aller Absolvent*innen fanden einen Arbeitsplatz. Aufgrund dieses Erfolges entschieden sich 30 weitere Schulen, denselben Weg zu gehen.
Digitalisierung hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote, sondern verändert auch die Qualität von Arbeit. Durch die Automatisierung und Digitalisierung von Arbeit erhalten die Mitarbeiter*innen immer genauere (zeitliche) Vorgaben für ihre Aufgaben, ihre Tätigkeiten werden stärker kontrolliert. Eine 2017 veröffentliche Studie des DGB zeigt, dass in Deutschland eine Mehrheit der Beschäftigten, die besonders von der Digitalisierung betroffen sind, sowohl unter hohem Zeitdruck leidet als auch daran, dass immer neue Anforderungen an sie gestellt werden und das Gelernte entwertet wird.
Während die internationale Arbeitsteilung in der Vergangenheit durch Outsourcing der verarbeitenden Industrie von den entwickelten Industriestaaten in die Länder des globalen Südens gekennzeichnet war, ist im Rahmen der Digitalisierung auch ein neues Beschäftigungsmodell entstanden: das Crowdworking. Die weltweite Vermittlung kleinerer Jobs und Aufträge über digitale Plattformen hat sich zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickelt. Weltweit schießen Online-Arbeitsplattformen wie clickworker.de aus dem Boden.
Die meisten Crowdworker*innen leben in Asien. Allein in Indien und auf den Philippinen sind annährend 40 Prozent jener Menschen tätig, die über digitale Plattformen sogenannte Microjobs ausüben, wie beispielsweise Umfragen durchzuführen, Bilder und Produkte zu beschreiben und zu kategorisieren, Serviceleistungen zu bewerten, Social Media und Videos auf rechtswidrige und anstößige Inhalte zu durchforsten. In diesen Ländern verdienen vergleichsweise wenige Menschen ihren Lebensunterhalt in formellen Arbeitsverhältnissen. Daher weckte das Crowdworking zunächst große Hoffnungen auf alternative Einkommensmöglichkeiten.
Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Bilanz solcher Online-Arbeitsplattformen eher ambivalent ist. Zwar konnten manche Crowdworker*innen Ersparnisse bilden und diese in eigene Geschäftsideen oder ihre Fortbildung investieren. Viele beklagen jedoch die niedrigen Löhne, die sehr unsichere Auftragslage sowie die starke Überlastung. Die Suche nach Aufträgen auf unterschiedlichen Plattformen ist zeitaufwendig. Die Honorare sind niedrig, da es in vielen Ländern weitaus mehr Anbieter*innen als Nachfrage gibt. Zudem verfügen Crowdworker*innen in Ländern des globalen Südens noch seltener über eine Kranken- und Rentenversicherung, als ihre Kolleg*innen im globalen Norden. Die Arbeitsbedingungen sind häufig miserabel – nicht umsonst ist von digitalen Sweatshops die Rede.
Nicht nur die durch Plattformökonomien entstehenden Arbeitsbedingungen sollten kritischer begleitet werden. Auch in der Produktion von IT-Hardware wie Computer oder Smartphones sind diese bis hin zu Ausbeutung und Zwangsarbeit weit verbreitet. Es müssen dringend politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit auch in der digitalen Ökonomie weltweit Sozialstandards und ein konsequenter Arbeitsschutz gelten. Die Verabschiedung eines Lieferkettengesetzes zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht, das gegenwärtig in der Bundesregierung sowie der EU diskutiert wird, wäre ein erster wichtiger Schritt.
Chancen der Wertschöpfung durch Digitalisierung
Von der Digitalisierung globaler Lieferketten versprechen sich viele Akteur*innen aus der Entwicklungszusammenarbeit positive Impulse: Mehr Effizienz, mehr Produktivität und Transparenz sowie eine erhöhte Wertschöpfung für jene Menschen, die am Anfang der Lieferkette stehen. Untersuchungen ostafrikanischer Teeproduzent*innen bestätigen diese Hoffnungen zumindest teilweise: Die Teepflücker*innen können ihre Arbeit tatsächlich effizienter gestalten. Dank der Anbindung ans Internet verbesserte sich ihre Kommunikation mit anderen Akteur*innen aus der Lieferkette. Durch digital gestützte Methoden der Datenerhebungen wurde die Lieferkette zudem transparenter. Das ermöglicht beispielsweise ein besseres Management und die Überprüfung, ob Standards eingehalten werden.
Die Untersuchungen zeigen aber auch, dass die Teepflücker*innen selbst nicht von der Entwicklung profitieren, im Gegenteil: Dank der erhöhten Transparenz wissen Großeinkäufer*innen schneller, wo Tee mit gleicher Qualität sowie unter gleichen Standards angebaut wird. Damit steigt die Anzahl potenzieller Lieferant*innen für Produkte mit ganz bestimmten Merkmalen. Das wiederum verschärft die Konkurrenz: Global agierende Unternehmen können kurzfristig entscheiden, bei wem sie einen bestimmten Tee einkaufen. Sie können ihre Machtposition ausbauen, während sich die Situation der lokalen Teepflücker*innen verschlechtert. Ihre Einnahmen sind heutzutage geringer als zu Zeiten analoger Lieferketten.
Dies ist kein Einzelfall. Viele Studien zeigen, dass Wertschöpfung in globalen Lieferketten zunehmend vor oder nach der eigentlichen Produktion anfällt. Das ist aus entwicklungsökonomischer Perspektive besonders relevant, denn diese Prozesse werden von transnationalen Konzernen aus Ländern des globalen Nordens dominiert.
Die Machtkonzentration zugunsten potenter transnationaler Akteur*innen ist keineswegs nur eine zufällige oder gar unbeabsichtigte Nebenfolge der Digitalisierung. Vielmehr haben diese ein unmittelbares Interesse daran, ihre Macht und Kontrolle mittels digitalisierter Wertschöpfungsketten auszubauen. Sie verfügen über die notwendigen technischen Instrumente, wie Speicherkapazität, Cloud-Dienste, Algorithmen und Künstliche Intelligenz. Damit können sie wertvolle Daten über Lieferketten erheben, auswerten, und aufbereiten – und die Daten gewinnbringend weiterverkaufen.
Damit auch kleinere Produzent*innen von der steigenden Wertschöpfung profitieren können, müssen sie über ihre eigenen Daten verfügen können. Zudem brauchen sie einen besseren Zugang zu marktrelevanten Informationen sowie die Fähigkeit diese auszuwerten und für ihre Zwecke zu nutzen. Ihre Marktposition könnte durch den Aufbau eigener Plattformen gestärkt werden, über die sie Produkte und Dienstleistungen genossenschaftlich erbringen und anbieten.
Die Unbekannte: der digitale Handel
Große Hoffnungen für den globalen Süden stützen sich auf den digitalen Handel. Auch Akteur*innen aus der Entwicklungszusammenarbeit behaupten, die Schaffung neuer, digitaler Märkte biete hohe Wachstumsraten und könne so zu einer Steigerung des Wohlstands beitragen. Tatsächlich hat sich der digitale Handel seit Mitte der 1990er Jahre dynamischer und innovativer entwickelt als der traditionelle Handel. Ist der gesamte Welthandel in den vergangenen Jahren insgesamt um weniger als drei Prozent pro Jahr gewachsen, so liegen die Wachstumsraten beim elektronischen Handel im zweitstelligen Bereich. Nach Angaben der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) hatte allein der weltweite Online-Handel bereits im Jahr 2017 ein Volumen von 29 Billionen US-Dollar.
Im Zuge der wachsenden Bedeutung beziehen sich auch immer mehr Handelsabkommen auf den digitalen Handel. Wie unter anderem Studien der Vereinten Nationen belegen, profitierten davon bisher allerdings vor allem große multinationale Konzerne. Ärmere Länder des globalen Südens sind im digitalen Handel bis auf wenige Ausnahmen stark marginalisiert.
Eines der wichtigsten Abkommen in diesem Zusammenhang ist das Informationstechnologieabkommen (ITA) der Welthandelsorganisation (WTO) von 1998. Es schreibt den Abbau von Zöllen auf informationstechnologische Güter vor – vom PC bis zum Smartphone. Seine Folgen für viele Länder des globalen Südens zeigt das Beispiel Indiens: Nach den Zollbeseitigungen drängten multinationale Konzerne der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik auf den indischen Markt. Billigware aus China verdrängte indische Hersteller*innen und Zulieferbetriebe.
Um die Entwicklungspotenziale der Digitalisierung nutzen zu können, müssen Staaten ihren handelsrechtlichen Spielraum zurückgewinnen. Dafür müssen sie Schutzmaßnahmen für die eigene Wirtschaft ergreifen dürfen und eine an den eigenen Bedürfnissen ausgerichtete Digitalwirtschaft gestalten können. Hierfür müssen sie auch eigene Datenbestände aufbauen. Einige Entwicklungs- und Schwellenländer verpflichten daher internationale Unternehmen, ihre Daten auch auf lokalen Servern zu speichern, oder verbieten sogar den Transfer bestimmter (etwa personenbezogener) Daten ins Ausland.
Derartige Auflagen stehen jedoch der Handelspolitik der USA und der EU entgegen. Auch große Internetkonzerne fordern ein Verbot solcher Lokalisierungsauflagen. In einigen Handelsabkommen sind solche Verbote bereits zu finden. Am weitesten geht das transpazifische Partnerschaftsabkommen (Comprehensive and Progressive Agreement for Transpacific Partnership), das seinen elf Vertragsstaaten untersagt, die Nutzung oder Errichtung lokaler Computeranlagen zur Voraussetzung für Geschäfte in seinem Hoheitsgebiet zu machen.
Die Regelungen zum Datenverkehr machen deutlich: Abkommen über den digitalen Handel schränken den politischen Handlungsspielraum von Regierungen ein, die Digitalwirtschaft ihren nationalen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten.
Bei der nächsten WTO-Ministertagung im Juni 2021 in Kasachstan wird sich entscheiden, ob die sogenannten “Freunde des E-Commerce“, zu denen auch die EU gehört, von der Welthandelsorganisation ein Mandat für Verhandlungen über ein umfassendes Abkommen zum digitalen Handel bekommen.
Es steht zu befürchten, dass sich die globale Internet-Governance-Struktur immer stärker zugunsten finanzstarker Tech-Konzerne verändert – und der Mehrheit der Menschen im globalen Süden beim digitalen Wandel lediglich eine untergeordnete Rolle (als Datenzulieferer) zuerkennt. Es ist an der Zeit, diesem Vorhaben einen breiten gesellschaftlichen und politischen Widerstand entgegenzusetzen.
Gesellschaftliche Teilhabe dank Digitalisierung?
Nicht nur Unternehmen und Konsument*innen verschafft die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung, auch Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und andere zivilgesellschaftliche Akteure nutzen digitale Medien für ihre Kooperation, politische Mobilisierung sowie Lobby- und Advocacy-Arbeit. Berichte von Betroffenen aus Krisengebieten und von Menschenrechtsverletzungen können so schneller verbreitet und zivilgesellschaftliches Engagement auf globaler Ebene mobilisiert werden. Weltweite soziale Bewegungen wie Fridays for Future sind ohne moderne Kommunikationsmittel nicht mehr vorstellbar.
Die Schattenseiten der Digitalisierung im Bereich politischer Teilhabe sind jedoch ebenso unübersehbar: Fake-News, Hasskriminalität und Cybermobbing. Gezieltes Cybermobbing dient oftmals der Einschüchterung der Zivilgesellschaft, weltweit. In Thailand und den Philippinen setzen die Regierungen diese Methoden systematisch zur Unterdrückung Andersdenkender ein. Außerdem überwachen immer mehr Staaten den Informationsaustausch auf Webseiten und in sozialen Netzwerken.
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Immer häufiger schalten autoritäre Staaten das Internet einfach ganz ab, um politische Einflussnahme durch die Zivilgesellschaft zu verhindern. In Togo und dem Iran kam es im Zeitraum von Wahlen zu Internet-Shutdowns. In Kamerun und Indien wurde in Krisenregionen das Internet für die dort lebenden Minderheiten blockiert. Diese Repressalien lähmen zunehmend zivilgesellschaftliches Engagement und befördern die Selbstzensur von Aktivist*innen.
Fehlende Rahmenbedingungen
Der digitale Fortschritt trägt bisher viel zu wenig dazu bei, in Ländern des globalen Südens Einkommens- und Wirtschaftsmöglichkeiten zugunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu verändern und Arbeit menschenwürdiger zu gestalten. Hinsichtlich der Frage, ob digitale Techniken die gesellschaftliche und politische Teilhabe demokratischer Kräfte erhöhen, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Damit die Digitalisierung im Sinne der Agenda 2030 niemanden zurücklässt, bedarf es sozialer Innovationen und gesellschaftlicher Akteure, die in der Lage sind, diese – gegen die Interessen der Wirtschaft und autoritärer Staaten – durchzusetzen.
Die vergangenen industriellen Revolutionen wurden durch die Entwicklung von sozialpolitischen Gesetzgebungen, die Schaffung von Mitbestimmungsrechten, Tarifverträge und andere Errungenschaften gebändigt. Einer der wichtigsten Akteure dieser sozialen Transformation waren die Gewerkschaften. Die Entwicklung und Durchsetzung einer gemeinwohlorientieren Digitalisierung bedarf des Engagements einer Vielzahl von Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft – sowie einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen. Mit der Konferenz „Bits & Bäume“ 2018 in Berlin haben Umweltverbände, Entwicklungsorganisationen zusammen mit Tech-Organisationen wie dem Chaos Computer Club eine Bewegung für Digitalisierung und Nachhaltigkeit initiiert. Aufbauend auf diesen Erfahrungen sollten zivilgesellschaftliche Akteure weitere zukunftsweisende Vorhaben angehen.
Sven Hilbig ist Referent für Welthandel bei Brot für die Welt.
Sven Hilbig ist Referent für Welthandel bei Brot für die Welt.