Der schlimmste Ausdruck von Ungleichheit
Geschlechtsspezifische Gewalt tritt überall auf, geht aber überwiegend von Männern aus.
Es gibt unterschiedliche Formen und Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese tritt überproportional innerhalb der Familie oder der häuslichen Einheit sowie zwischen ehemaligen oder aktuellen Partner*innen auf. Ein internationaler Rechtsrahmen versucht Betroffene zu schützen. Doch konservative Kräfte agitieren dagegen und die Coronakrise zeigt besonders deutlich die bestehenden Ungleichheiten auf. Dagegen hilft nur Zusammenhalt.
Geschlechtsspezifische Gewalt können prinzipiell alle Menschen erfahren. Sie kann Frauen, Männern und Personen mit diversen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten zugefügt werden. Wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, ist dies genauso geschlechtsspezifische Gewalt wie wenn ein jugendliches Mädchen unfreiwillig einen älteren Mann heiraten muss oder ein schwuler Mann vergewaltigt wird. Es ist der schlimmste Ausdruck der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – und ein Beispiel für die anhaltende Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Denn diese sind die Hauptopfer.
Gewalt tritt an allen Orten auf: zu Hause, in der Schule, bei der Arbeit, im öffentlichen Nahverkehr oder auf der Straße. Manche Menschen sind mehrfach und oft in kombinierter Weise betroffen, da sie zusätzlich noch aufgrund ihres Alters, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Sexualität oder sozialen Klasse diskriminiert werden. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen teilt die unterschiedlichen Formen von Gewalt in vier große Kategorien ein: Körperliche, sexuelle, psychische und ökonomische Gewalt.
Vier Kategorien von Gewalt
Körperliche Gewalt umfasst jede Handlung, die körperlichen Schaden verursacht, einschließlich Körperverletzung und Totschlag. Dazu zählen Feminizide, das heißt die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Laut der Online-Plattform Femicide Watch wurden im Jahr 2017 weltweit 87.000 Frauen getötet, mehr als ein Drittel von ihnen von ihrem Partner.
Mit sexueller Gewalt sind sexuelle Handlungen an einer Person ohne deren Zustimmung gemeint, das heißt Belästigung, Übergriffe, Vergewaltigung, aber auch Sexhandel und weibliche Genitalverstümmelung. Die #MeToo-Bewegung rückte das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs ab 2017 ins Rampenlicht. Hunderttausende Frauen und Mädchen berichteten unter dem Hashtag online davon, in der Unterhaltungsbranche und anderswo sexuell belästigt oder angegriffen worden zu sein.
Psychische Gewalt umfasst verbale Beleidigungen, Isolation von Freunden und Familie, ständige Überwachung, strenge Verhaltensregeln oder Belästigung. Ein Beispiel ist die Gewalt gegen junge Klimaaktivist*innen, vor allem jugendliche Mädchen, die die Schulstreikbewegung gegen den Klimawandel anführen. Die Angriffe in ihren Social-Media-Kanälen reichen von öffentlich sichtbaren Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen per Direktnachricht. Cybergewalt gegen Menschen, die in sozialen Medien aktiv sind, verbreitet sich immer stärker und kann Angstzustände, Schlafstörungen, emotionalen Stress und Depressionen auslösen.
In einer in Bangladesch mit Kolleg*innen des Overseas Development Institute durchgeführten Studie haben wir festgestellt, dass die Nutzung neuer Kommunikationsformen wie Mobiltelefone, Internet und soziale Medien häufig als Hauptrisikofaktor für neue Formen von Gewalt genannt wurde. Der Zugang von Jungen zu Pornografie führte beispielsweise dazu, dass einige ihre Freundinnen dazu aufforderten, erniedrigende sexuelle Handlungen auszuführen. Andere Probleme entstehen dadurch, dass Jungen und Männer Fotos oder Videos von Mädchen aufnehmen und teilen. Manchmal verwenden sie dieses Material dazu, Mädchen zu erpressen.
Die vierte Kategorie, ökonomische Gewalt, kann in der Zerstörung von Eigentum bestehen, eingeschränktem Zugang zu Finanzmitteln oder dem Ausbleiben der Unterhaltszahlungen. Vom Mann daran gehindert zu werden, arbeiten zu gehen und eigenes Einkommen zu erzielen, war eine der häufigsten Formen von Gewalt, die Frauen im Rahmen einer von uns im Jahr 2017 im Tschad durchgeführten Studie nannten. Grundlage dafür sind Geschlechternormen, nach denen Frauen und Männer sozial bestimmten Rollen gerecht werden müssen: Männer sollen für ihre Familie sorgen, Frauen sich um das Haus kümmern. Frauen und jugendliche Mädchen erledigen die meisten unbezahlten, oft nicht wertgeschätzten Hausarbeiten, die einen erheblichen Teil ihrer Zeit in Anspruch nehmen und die sie im Vergleich zu Männern in einer untergeordneten Position halten.
Diese vier Formen von Gewalt treten überproportional innerhalb der Familie oder der häuslichen Einheit sowie zwischen ehemaligen oder aktuellen Partner*innen auf.
Der Antrieb zu männlicher Gewalt
Diskriminierende Einstellungen und soziale Normen sind der wichtigste Antrieb geschlechtsspezifischer Gewalt, bei der Männer die Haupttäter und Frauen sowie Menschen, die nicht der Heteronormativität entsprechen, die Hauptopfer sind. Auch Frauen können Menschen missbrauchen. Dies geschieht jedoch weitaus seltener. Männer und Jungen leiden ebenfalls unter geschlechtsspezifischer Gewalt. Derartige Fälle werden jedoch aufgrund sozialer Tabus in der Regel noch weniger gemeldet.
Auf individueller Ebene führen zum Beispiel Gewalt in der Kindheit, Stress aufgrund von Arbeit, starre Einstellungen gegenüber Geschlechterrollen oder Alkoholkonsum dazu, dass Männer Gewalt anwenden. Darüber hinaus begehen Männer, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, eine Waffe besitzen (insbesondere in den USA, in Südafrika sowie in Konflikt- und Postkonfliktsituationen) oder unter psychischen Problemen leiden, laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) häufiger Feminizide. Auf gesellschaftlicher Ebene erhöhen auch geschlechtsspezifische Ungleichheiten das Risiko körperlicher Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen etwa eine geringe Repräsentanz von Frauen in Regierungen, Kürzungen der staatlichen Sozialausgaben in Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung sowie gesellschaftliche Normen, die Männern mehr Autorität zugestehen als Frauen.
Unsere Untersuchungen in Bangladesch zeigen, dass die von Partnern ausgeübte Gewalt auch dadurch angetrieben wird, dass Männer sich heute oft benachteiligt fühlen und Angst vor Macht- und Kontrollverlust haben. Im April 2019 wurde zum Beispiel ein 18-jähriges Mädchen in Bangladesch lebendig verbrannt, nachdem es wegen sexueller Belästigung eine Beschwerde gegen den Direktor ihrer Schule eingereicht hatte. Im Tschad enthüllten die Berichte, die wir sowohl von Männern als auch von Frauen gesammelt hatten, schreckliche Fälle, in denen Mädchen von ihren Vätern getötet wurden, weil sie eine arrangierte Ehe abgelehnt hatten. Auch wurden Jugendliche zu Gefängnisstrafen verurteilt oder von ihren Familien geächtet, nachdem sie ein neugeborenes Baby verließen, das sie nach einer Vergewaltigung bekommen hatten.
Frauen, die Normen überschreiten, riskieren überall extreme Gewalt. Überlebende werden immer noch häufig für die erlebte Gewalt mitschuldig gemacht, weil sie sich auf eine bestimmte Art kleiden, sprechen oder verhalten würden. An diesen Vorurteilen konnte auch jahrzehntelange politische Arbeit für die Gleichheit und Würde, Sicherheit und die Rechte der Menschen nichts ändern.
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Der internationale Rechtsrahmen
Bereits 1979 verabschiedete die UN-Generalversammlung das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Vierzig Jahre später haben 189 Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Lediglich die USA haben es nur unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, und drei Staaten sich nicht geäußert (Iran, Sudan und Somalia). Insbesondere die CEDAW-Empfehlung Nr. 12 von 1989 legt die Verantwortung eines Staates fest, Frauen vor Gewalt innerhalb der Familie, am Arbeitsplatz oder in einem anderen Bereich des sozialen Lebens zu schützen.
Weitere politische Meilensteine sind die 1993 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Resolution zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Diese ist das erste internationale Instrument, das ausschließlich Gewalt gegen Frauen betrifft. Artikel 4 ruft die Staaten nachdrücklich dazu auf, sich nicht auf Sitten, Traditionen oder Religionen zu berufen, um dadurch ihre Verpflichtungen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen nicht zu erfüllen (Artikel 4).
Die Fortschritte in einzelnen Ländern zeigen sich am deutlichsten bei der Überprüfung der Umsetzung der Pekinger Erklärung und Aktionsplattform. Dieser internationale Rahmen, der auf der Vierten UN-Weltfrauenkonferenz 1995 von 189 Mitgliedstaaten verabschiedet wurde, umfasst zwölf kritische Bereiche, um die Rolle der Frauen zu stärken, einschließlich einer Verpflichtung, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. In jüngerer Zeit gilt als Maßstab für die internationale Gesetzgebung auch das 2011 beschlossene Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz Istanbul-Konvention.
Solche Vereinbarungen und die Arbeit internationaler Organisationen sind jedoch durch Gegenmobilisierungen konservativer Akteure bedroht, darunter religiöse Gruppen sowie rechtspopulistische und nationalistische Organisationen. Diese sprechen sich beispielsweise dagegen aus, Frauenrechte und reproduktive Rechte in politische Dokumente aufzunehmen. Reproduktive Rechte beziehen sich auf das Recht aller Personen auf Information und die Möglichkeit, Entscheidungen bezüglich der Reproduktion treffen zu können, die frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt sind.
Die Berichte von Frauen, die während der gynäkologischen Überwachung, während der Schwangerschaft, bei der Geburt und in der Zeit nach der Geburt weltweit Gewalt bei der Geburtshilfe erfahren haben, weisen darauf hin, dass die reproduktiven Rechte nie vollständig erreicht werden. In Frankreich stellt die Twitter-Kampagne #PayeTonUtérus Berichte von Frauen zusammen, die Misshandlungen ausgesetzt waren: von subtiler Missachtung ihrer Autonomie, unnötigem Gebrauch von Medikamenten und Missachtung ihrer Schmerzen bis hin zu offenem Missbrauch, einschließlich verbaler Demütigung, Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, ethnischem oder wirtschaftlichem Hintergrund, Alter, HIV-Status, geschlechtsspezifischen Abweichungen und erzwungener medizinischer Intervention. In Ländern wie Brasilien schwächen aktuell Gesetzesinitiativen, die rechtsextreme Politiker vorantreiben, die bereits gesetzlich garantierten reproduktiven Rechte von Frauen weiter.
Konservatives Rollback und solidarische Antworten
„Während die Gleichstellung der Geschlechter schon immer umstritten war, ist der Widerstand dagegen und gegen Frauenrechtsaktivismus in den letzten Jahren lauter und globaler geworden und hat sich besser organisiert“, schrieben Conny Roggeband von der Universität Amsterdam und Andrea Krizsan von der Zentraleuropäischen Universität in Budapest in einem Hintergrundpapier für die UN-Frauenrechtskommission (CSW 64) im vergangenen Jahr. Konservative familienfreundliche Nichtregierungsorganisationen, Männerrechtsgruppen und in jüngerer Zeit auch genderfeindliche Bewegungen mobilisieren gegen die reproduktiven Rechte von Frauen, Sexual- und Geschlechtererziehung in Schulen, Geschlechterstudien und die Rechte von sexuellen und geschlechtsspezifischen Minderheiten.
Parallel zu diesem weltweit zunehmenden Konservatismus, Populismus und Fundamentalismus hält die Zivilgesellschaft, die gegen geschlechtsspezifische Gewalt kämpft, den Druck auf die Regierungen aufrecht. Sie fordert, dass diese die Menschenrechtsverletzungen sichtbarer machen und angemessener damit umgehen. Seit 1991 startet jedes Jahr am 25. November die Kampagne „16 Tage Aktivismus gegen geschlechtsspezifische Gewalt“, die tausende Organisationen weltweit gemeinsam durchführen. Im Jahr 2019 rief die Kampagne dazu auf, Maßnahmen zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt in der Arbeitswelt zu ergreifen, und fordert von Regierungen, die neue Konvention C190 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sowie die dazugehörige Empfehlung R206 umzusetzen.
Der Aufstieg von feministischen Graswurzelorganisationen und Bewegungen aus dem Süden hat neue und alternative Stimmen hervorgebracht. Die argentinische Basisbewegung Ni una menos organisierte 2016 als Reaktion auf die brutale Vergewaltigung und Ermordung der 16-jährigen Lucía Pérez erstmals einen Massenstreik von Frauen in Argentinien, wobei sich die Proteste auf andere lateinamerikanische Länder ausweiteten.
In Südafrika setzt sich Sonke Gender Justice seit 2006 für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen geschlechtsspezifische Gewalt ein und fordert, dass alle derartigen Vorfälle „als systemische Ausdrücke gewalttätiger Männlichkeiten und schädlicher Geschlechternormen" betrachtet werden. Um die lokale Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo bestmöglich für geschlechtsspezifische Gewalt zu sensibilisieren, organisiert die kongolesische Organisation SOFEPADI hunderte von Radioprogrammen sowie Treffen mit lokalen Führungspersönlichkeiten, die sich dann daran beteiligen, Missbrauchsfälle weiterzuleiten und Überlebende durch Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.
Untersuchungen zeigen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach einer Katastrophe anwächst, Medizinische und rechtliche Systeme, die eigentlich Schutz bieten sollen, versagen in diesen Momenten häufig oder stehen gar nicht erst zur Verfügung. Dies hat sich leider während des Corona-Lockdowns bestätigt. In zahlreichen Ländern, darunter China, Singapur, Großbritannien, Spanien, Deutschland, Frankreich, Argentinien, Südafrika, Libanon, Côte d'Ivoire, Kanada und Australien, wurden mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet und stieg die Nachfrage nach Notunterkünften.
Die Krisen erinnern an die bestehenden Ungleichheiten und diskriminierenden Haltungen, die geschlechtsspezifische Gewalt antreiben. In diesen schwierigen Zeiten gilt es, die Gemeinschaft zu mobilisieren, um Missbrauch zu verhindern und Überlebende von Gewalt zu schützen. Dies kann nicht oft genug betont werden. Wir müssen uns mehr umeinander kümmern.
Aus dem Englischen von Tobias Lambert.
Virginie Le Masson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Overseas Development Institute in London. Ihre Forschung befasst sich mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und Gewaltrisiken an Orten, die von Umweltveränderungen und Katastrophen betroffen sind. Sie ist Mitherausgeberin des Buches „Understanding Climate Change through Gender Relations”.
Virginie Le Masson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Overseas Development Institute in London. Ihre Forschung befasst sich mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und Gewaltrisiken an Orten, die von Umweltveränderungen und Katastrophen betroffen sind. Sie ist Mitherausgeberin des Buches „Understanding Climate Change through Gender Relations”.