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„Das Gefühl von Machtlosigkeit, Angst und Unsicherheit hat ganz Nicaragua erfasst“

Ein Interview zur Lage im Land mit einer derzeit in Costa Rica untergetauchten Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation

von Isabell Nordhausen
Veröffentlicht 2. SEPTEMBER 2018

Seit fast fünf Monaten kommt Nicaragua nicht zur Ruhe. Die Bevölkerung fordert eine Demokratisierung des Landes, eine unabhängige Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen der letzten Monate und den Rücktritt von Präsident Daniel Ortega. Bisher ohne Erfolg. Die Regierung unterdrückt die Protestbewegung massiv und setzt dabei auf brutale Gewalt. Polizei und paramilitärische Gruppen schießen gezielt auf Demonstrant*innen. Die Krise forderte bereits mindestens 317 Todesopfer, über 2.000 Menschen wurden verletzt. Zurzeit wird im Auftrag der Regierung eine Säuberungsaktion durchgeführt, bei der hunderte Menschen aus politischen Gründen verhaftet wurden. Immer wieder wird von Folter berichtet.

Hinweis zu diesem Interview: Wir haben mit einer derzeit in Costa Rica untergetauchten Mitarbeiterin einer mit INKOTA befreundeten Nichtregierungsorganisation aus Nicaragua gesprochen. Da sie bald nach Nicaragua zurückkehren möchte, verzichten wir auf die Nennung ihres Namens.

Wie schätzt Du die derzeitige Situation in Nicaragua ein?
Seit Beginn der Proteste im April steigt die Anzahl der Todesopfer immer weiter an. Unter den Opfern sind sehr viele Jugendliche und Studenten und Studentinnen. Die Opposition setzt ihre zivilen und friedlichen Demonstrationen fort, aber Paramilitärs, Polizisten, Spezialeinheiten der Polizei und Regierungsmitglieder bedrohen und kriminalisieren all diejenigen, die sich an den Protesten beteiligen. Insbesondere Menschenrechtsorganisationen und Frauenbewegungen sind ständigen Bedrohungen ausgesetzt. Zwei neue Gesetze wurden von der Regierung verabschiedet, ein Terrorismus- und ein Geldwäschegesetz. Diese Gesetze werden willkürlich angewandt und kriminalisieren Organisationen und Menschen, die sich für Demokratie oder die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen.

Dennoch wird die Regierung immer noch von einem Teil der Bevölkerung unterstützt. Ein Argument, was dabei immer wieder angeführt wird, ist zum Beispiel, dass die Regierung Ortegas in den letzten Jahren sehr viel unternommen und erreicht hat im Bereich der Armutsbekämpfung. Siehst Du das nicht so?
Die meisten, die die Regierung immer noch unterstützen, tun das entweder, weil sie dafür bezahlt werden, oder weil sie oder ihre Familienmitglieder bedroht werden. Viele haben Angst ihre Arbeit zu verlieren und dann kein Geld mehr zu haben, um sich und ihre Familien zu ernähren. Im Gesundheitssektor zum Beispiel wurden bereits etliche Ärzte und Pflegekräfte entlassen, einzig und alleine aus dem Grund, dass sie die Menschen, die an den Protesten teilnahmen und dabei verletzt wurden, medizinisch versorgt haben.

Es gab zwar Fortschritte im Bereich der Armutsbekämpfung und es wurden verschiedene Sozialprogramme durchgeführt. Aber diese Programme waren nicht sehr effektiv, sondern haben Abhängigkeiten geschaffen, die für politische Zwecke instrumentalisiert wurden. Statt die Menschen zu stärken und selbstbestimmte Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen, haben die Programme sie nur punktuell mit Sachleistungen versorgt. Die Daten zum Rückgang der Armut sind außerdem mit Vorsicht zu betrachten. Internationale Institutionen, die hierzu in der Vergangenheit Berichte veröffentlicht haben, wie zum Beispiel das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, mussten ihr Büro schließen. Die aktuellen Zahlen basieren ausschließlich auf Angaben der Regierung.

Auch wenn man unser marodes Bildungssystem betrachtet, kann nicht von einer positiven Entwicklung die Rede sein. Auch hier ist schon seit längerer Zeit eine Politisierung zu beobachten. So werden ausschließlich Schüler und Studenten gefördert, die mit der Regierungspartei FSLN verbunden sind oder mit ihr sympathisieren. Wir können nicht von einer positiven Entwicklung sprechen, wenn es keine Demokratie gibt, wenn die Regierung die Menschenrechte am laufenden Band verletzt. Was in den letzten Monaten zum Ausbruch gekommen ist, geht auf all das zurück, was die Bevölkerung in den letzten Jahren ertragen musste.

Wie wirkt sich die Krise auf Eure Arbeit als NGO aus?
Das Gefühl von Machtlosigkeit, Angst und Unsicherheit hat ganz Nicaragua erfasst, so auch uns, unser gesamtes Team. Einige von uns wurden direkt bedroht und verfolgt. Auch ich stehe auf der schwarzen Liste der Regierung, wurde mehrfach verfolgt. Nachdem in mein Haus eingebrochen wurde, musste ich erstmal weg. Es tut mir in der Seele weh, nicht in meinem Land sein zu können und in Costa Rica ausharren zu müssen.

Tag für Tag analysieren wir die aktuellen Entwicklungen und erarbeiten Strategien für unsere weitere Arbeit in den Gemeinden. Wir haben eine Weiterbildung im Bereich psychosoziale Arbeit für unser gesamtes Personal organisiert, um den Stress besser zu bewältigen, den jeder und jede einzelne von uns durchlebt. Die psychosoziale Herangehensweise verfolgt eine partizipative Methodologie und beinhaltet beispielsweise Aktivitäten zur Reflexion sowie die Gründung von Selbsthilfegruppen. Was wir in der Weiterbildung gelernt haben, wollen wir nun an die Promotorinnen und Promotoren in den Projektgemeinden weitergeben.

Welche Perspektiven siehst Du für Nicaragua, ist eine Lösung des Konflikts zwischen Regierung und Opposition denkbar?
Parteien spielen bei den Protesten gegen die Regierung keine Rolle, es handelt sich um eine zivile Protestbewegung. Diese fordert Meinungsfreiheit, Demokratie und das Recht sich zu organisieren und die eigenen Rechte einfordern zu können – ohne dabei bedroht, verfolgt oder gar getötet zu werden. In Nicaragua gibt es derzeit keine Partei, die eine wirkliche politische Alternative sein könnte. Jedoch wird organisierten Gruppen vorgeworfen – insbesondere Organisationen von Feministinnen und Frauenbewegungen – mit Oppositionsparteien verbunden zu sein beziehungsweise von ihnen finanziert zu werden. Das soll deren friedliche Protestaktionen delegitimieren.

Die „Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie“, die als Zusammenschluss verschiedener Oppositionsgruppen entstanden ist, wird für Nicaraguas Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Das wäre vor allem dann der Fall, wenn es vorgezogene Neuwahlen gäbe. Leider sieht es derzeit nicht danach aus, dass sich die Regierung darauf einlässt. Tag für Tag wird die Situation schlimmer, vor allem auch durch die neuen von der Regierung erlassenen Gesetze. Demnach verübt jede Person, die sich an Demonstrationen beteiligt und damit ihre Ablehnung gegenüber dieser autoritären Regierung zum Ausdruck bringt, einen terroristischen Angriff auf die Regierung.

Was für Handlungsmöglichkeiten bleiben der nicaraguanischen Zivilgesellschaft dann überhaupt noch?
Die Handlungsspielräume sind extrem eingeschränkt, zivilgesellschaftliche Organisationen werden gezielt verfolgt. Zusätzlich verschließt das nicaraguanische Innenministerium die Türen der Organisationen, indem es die benötigten Lizenzen nicht ausstellt. Einige Organisationen mussten deshalb bereits schließen, andere befinden sich auf einer Warteliste und es ist unwahrscheinlich, dass die Lizenzen der betroffenen Organisationen unter den bestehenden Umständen zeitnah verlängert werden.

Wir können unsere Projekte, in denen es vor allem um Ernährungssicherheit und Einkommensförderung geht, weiterhin durchführen, unsere Aktivitäten werden jedoch genau beobachtet. Generell sollten alle Organisationen in diesen schwierigen Zeiten unbedingt interne Schulungen erhalten, die dabei helfen, die aktuelle Krise besser zu bewältigen. Momentan reichen landwirtschaftliche Aktivitäten mit den Bauern und Bäuerinnen, mit denen wir arbeiten, alleine nicht aus. Wir müssen diese mit psychosozialen Maßnahmen kombinieren. Die Zivilgesellschaft muss außerdem Strategien entwickeln, um sich selbst zu schützen. Der größte Kampf im Augenblick gilt der Rettung von Menschenleben. Ohne zu vernachlässigen, weiterhin Widerstand zu leisten, damit die Situation sich verbessert.

Das Interview führte Isabell Nordhausen, INKOTA-Projektreferentin Zentralamerika.

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