In eigener Sache

Analyse des Koalitionsvertrags

Koalitionsvertrag der Ampel bietet Chancen für nachhaltige Entwicklung und globale Gerechtigkeit

von Arndt von Massenbach
Veröffentlicht 6. DEZEMBER 2021

Die Erwartungen an die selbsternannte „Zukunftskoalition“ zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP waren und sind groß. INKOTA hat den Koalitionsvertrag unter die Lupe genommen und das Papier aus entwicklungspolitischer und menschenrechtlicher Perspektive analysiert.

Die Verpflichtung der zukünftigen Regierung, ihre Politik konsequent an den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen zu orientieren und das Versprechen, die nationale und internationale Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik auf den 1,5-Grad-Pfad auszurichten, bietet eine gute Grundlage für Reformen hin zu einer dringend notwendigen sozial-ökologischen Transformation.

Den geplanten Kürzungen der Entwicklungsfinanzierung der scheidenden Bundesregierung setzt die Ampel ein klares Bekenntnis entgegen, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen und für mehr Kohärenz zwischen den beteiligten Ministerien zu sorgen.

Koalitionsvertrag: Menschenrechte als Kompass

Der Bezug auf die Menschenrechte als Orientierung für Politik an vielen Stellen des Koalitionsvertrages lässt hoffen, dass die universellen Menschenrechte wieder stärker zum handlungsleitenden Kompass deutscher Politik werden. Dies drückt sich u.a. aus in der Absicht, die Digitalisierung menschenrechtskonformer zu gestalten, beim Flüchtlingsschutz, einer konsequenteren Rüstungsexportkontrolle sowie in der Aufwertung der*des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung und der Stärkung des UN-Menschenrechtssystems.

Grundsätzlich gilt: Der Koalitionsvertrag enthält viele spannende Ansatzpunkte. Teilweise sind konkrete Ziele und Maßnahmen formuliert. Aber an vielen Stellen bleibt der Koalitionsvertrag aber auch vage und zum Teil reichen die geplanten Maßnahmen nicht aus, um die ambitionierten Ziele zu erreichen. Wir als INKOTA sehen das als Auftrag, dranzubleiben und gemeinsam mit Bündnispartnern Druck zu machen. Das Potenzial ist da und wir freuen uns darauf, an der Umsetzung mitzuarbeiten.

Im Folgenden schauen wir genauer auf die Bereiche, zu denen INKOTA gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen weltweit schwerpunktmäßig arbeitet.

Landwirtschaft und Ernährung

INKOTA setzt sich seit Jahrzenten für eine globale Agrar- und Ernährungswende ein. Die Ampel-Koalition hat sich darauf geeinigt, in den nächsten Jahren viele wichtige und dringend erforderliche Schritte für ein gerechteres, gesünderes und nachhaltigeres Ernährungssystem zu gehen.

Wir begrüßen, dass Hungerbekämpfung, die Förderung agrarökologischer Ansätze und die Unterstützung von kleinbäuerlicher Landwirtschaft für Ernährungssicherheit Schwerpunkte der künftigen Entwicklungszusammenarbeit sein werden. Angesichts der vielen Krisen des Ernährungssystems – von steigenden Hungerzahlen über Klimakrise, Artensterben und wachsender sozialer Ungleichheit – setzen wir uns gemeinsam mit sozialen Bewegungen und Bäuer*innen weltweit seit vielen Jahren für die politische und finanzielle Förderung von Agrarökologie ein. Auch viele INKOTA-Partnerorganisationen wenden seit Jahren erfolgreich agrarökologische Ansätze an und konnten damit die Situation für sich und ihre Familien verbessern und zu mehr Ernährungssouveränität gelangen. Das stärkere Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich kann wichtige Impulse für eine globale Agrar- und Ernährungswende sowie die Abkehr vom Agrarmodell der Grünen Revolution geben. Vorhaben der Ampelkoalition wie die Entwicklung eines ökologischen Fußabdrucks von Lebensmitteln sind zu begrüßen. Was aus unserer Sicht fehlt, ist der Blick auf die sozialen Kosten der Lebensmittelproduktion, die gerade in globalen Agrarlieferketten oft sehr hoch sind, was die Lebensmittelpreise in unseren Supermärkten in keiner Weise widerspiegeln.

Die Koalition bekennt sich zu fairen Preisen im Lebensmittelmarkt und verspricht gegen unfaire Handelspraktiken vorzugehen. Konkret enthalten ist ein Prüfauftrag, inwieweit der Verkauf von Lebensmitteln unter Produktionskosten unterbunden werden kann. Ein solches Verbot – das unbedingt auch globale Lieferketten einschließen muss – wäre aus unserer Sicht ein wichtiger Schritt, um zu einer fairen Verteilung der Wertschöpfung innerhalb der Lieferkette beizutragen und bäuerlichen Produzent*innen ein existenzsicherndes Einkommen zu ermöglichen.

Mit großer Sorge betrachten wir seit Jahren die wachsende Konzentration von Marktmacht unter anderem im Saatgut- und Pestizidsektor, bei Supermarktketten und im Bereich der digitalen Landwirtschaft. Wenige große Konzerne nehmen somit immer mehr Einfluss auf landwirtschaftliche Praktiken und Ernährungsweisen. Daher begrüßen wir, dass die Ampel-Koalition sich auf EU-Ebene für eine Möglichkeit zur Entflechtung großer Konzerne einsetzen und das deutsche Bundeskartellamt stärken will, und erachten es als wichtigen ersten Schritt.

Seit mehreren Jahren setzt sich INKOTA für einen Exportstopp von in der EU verbotenen Pestiziden ein, aufgrund derer Jahr für Jahr Millionen Menschen in Ländern mit schwachen Regulierungen Opfer von Pestizidvergiftungen werden. Die Ampel-Koalition verspricht, den Export von „bestimmten“ Pestiziden zu untersagen, die in der EU aus Gründen des Schutzes der menschlichen Gesundheit nicht zugelassen sind. Wir sehen das als wichtigen Schritt, auch wenn die Formulierung Interpretationsspielraum lässt. Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht, sich darüber hinaus zu einem globalen Ausstieg aus der Herstellung und dem Einsatz von hochgefährlichen Pestiziden zu bekennen.

Wirtschaft und Menschenrechte

INKOTA engagiert sich seit vielen Jahren für eine gesetzliche Regulierung menschenrechtlicher Sorgfaltsplichten von Unternehmen und konnte zuletzt mit der Verabschiedung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes einen wichtigen Erfolg verbuchen.

Wir begrüßen daher, dass die neue Bundesregierung sich für ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte einsetzen will. Damit verpflichtet sich die Koalition, in Brüssel für ein Gesetz einzutreten, das über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgeht. Dazu gehört gemäß den UN-Leitprinzipien, dass Sorgfaltspflichten ohne Abstufungen für die gesamte Wertschöpfungskette festgeschrieben werden müssen. Außerdem sind laut UN-Leitprinzipien die Staaten verpflichtet, Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen Zugang zu Abhilfe zu gewähren. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass Betroffene Schadensersatz von Unternehmen einklagen können. Ein EU-Lieferkettengesetz wird daher nur wirksam sein, wenn es eine zivilrechtliche Haftungsregelung umfasst, auf die beim deutschen Gesetz auf Druck der Union verzichtet wurde.

In diesem Sinne ist es auch zu begrüßen, dass die Koalition das deutsche Lieferkettengesetz gegebenenfalls verbessern will. Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, dazu zur Mitte der Legislaturperiode eine Evaluierung der Wirksamkeit des Gesetzes vorzunehmen und dabei auch den Zugang von Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen zu Abhilfe und Entschädigung zu untersuchen.

Dies sollte in der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Überarbeitung des Nationalen Aktionsplans für Wirtschaft und Menschenrechte festgeschrieben werden. Außerdem sehen wir die Notwendigkeit, menschenrechtliche und ökologische Standards auch im Bereich der öffentlichen Beschaffung verbindlich zu verankern und begrüßen daher auch die Ankündigung, die öffentliche Beschaffung und Vergabe stärker verbindlich nach sozialen und ökologischen Kriterien auszurichten.

Positiv ist auch die Unterstützung des von der EU vorgeschlagenen Importverbots von Produkten aus Zwangsarbeit. Grundsätzlich richtig ist ebenso die Unterstützung des Vorschlags der EU-Kommission zum Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten, wobei hier darauf zu achten ist, dass das Gesetz nicht durch zahlreiche Ausnahmeregelungen zum Papiertiger wird.

Enttäuschend ist allerdings, dass sich auch die neue Bundesregierung nicht zur konstruktiven Mitarbeit im Prozess zu einem verbindlichen UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte bekennt. Es ist aus unserer Sicht überfällig, dass Deutschland diesen Prozess aktiv mitgestaltet und sich für ein entsprechendes Verhandlungsmandat der EU einsetzt.

In der Corona-Krise hat sich die ungerechte Lastenverteilung in globalen Lieferketten auf Kosten der Arbeiter*innen und bäuerlichen Produzent*innen in besonders dramatischer Weise gezeigt. Daher nehmen wir das Versprechen der Ampel-Koalition, sich gemeinsam mit Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaft für faire und formelle Arbeitsbedingungen sowie existenzsichernde Löhne weltweit einzusetzen, gerne beim Wort. Wir erwarten dabei von der neuen Bundesregierung, dass sie ihr Engagement in Multi-Akteurs-Partnerschaften wie dem Bündnis für nachhaltige Textilien oder dem Forum Nachhaltiger Kakao daran knüpft, dass hier gute Praktiken etabliert werden, die über den gesetzlichen Rahmen hinausgehen und zu messbaren Verbesserungen für Arbeiter*innen und Bäuer*innen führen.

Wir begrüßen die geplante (und längst überfällige) Ratifizierung der sogenannten ILO-Konvention über den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft, die ein wichtiger Schritt für mehr soziale Gerechtigkeit und Gesundheitsschutz von Arbeiter*innen in der Landwirtschaft ist. Aktuelle Studien zeigen etwa, dass fast die Hälfte der Plantagenarbeiter*innen und Bäuer*innen weltweit jährlich mindestens eine Pestizidvergiftung erleidet.

Rohstoffpolitik und Kreislaufwirtschaft

INKOTA setzt sich dafür ein, dass planetare Grenzen, Menschenrechte und Umweltschutz in der deutschen Rohstoffpolitik stärker berücksichtigt werden. Als fünftgrößter Rohstoffverbraucher weltweit hat Deutschland dabei eine besondere Verantwortung, dass unsere Rohstoffversorgung nicht auf Kosten von Menschen und Umwelt in Ländern des Globalen Südens erfolgt.

Wir begrüßen daher das klare Bekenntnis der neuen Bundesregierung zur Senkung des primären Rohstoffverbrauchs und zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft. Sie sind wichtige Bausteine, um die von INKOTA geforderte Rohstoffwende einzuleiten. Allerdings vermissen wir ambitionierte, verbindliche sowie messbare Ressourcenschutz- und Reduktionsziele. Die bisherigen rohstoffpolitische Strategien will die Koalition in einer „Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie“ bündeln. Positiv ist dabei das erweiterte Verständnis von Kreislaufwirtschaft, welches anders als bisher weit über das Recycling hinausgeht, indem es beim Produktdesign beginnt und stärker auf Abfallvermeidung setzt. Damit folgt Deutschland dem Europäischen Verständnis von Kreislaufwirtschaft, weshalb wir erwarten, dass sich die Bundesregierung auch für ambitionierte Maßnahmen im Rahmen des EU-Aktionsplans für Kreislaufwirtschaft einsetzt. Wichtig aus INKOTA-Sicht ist, dass Menschenrechts- und Umweltschutz hier handlungsleitend sind und die absolute Reduktion des Primärrohstoffverbrauchs sowie die Stärkung des Sekundärrohstoffmarktes an erster Stelle stehen.

Auch den Einsatz der nächsten Bundesregierung für ein nachhaltiges Produktdesign sowie für langlebige, wiederverwendbare, recycelbare und reparierbare Produkte begrüßt INKOTA. Immer wieder haben wir ein Recht auf Reparatur gefordert und freuen uns daher, dass Hersteller*innen von Produkten zukünftig in die Pflicht genommen werden sollen, Ersatzteile, Reparaturanleitungen und Updates bereitzustellen. Zusätzlich sollte sich die Bundesregierung auch dafür einsetzen die Kosten für Reparaturen zu senken, damit die Reparatur von Produkten für alle Menschen erschwinglich wird.

Kaum vereinbar mit dem Ziel der Senkung des primären Rohstoffverbrauchs ist der geplante massive Ausbau der Elektromobilität durch mindestens 15 Millionen vollelektrische PKW bis 2030 und der Batterieproduktion in Deutschland. Der Begriff Mobilitätswende, der für eine Abkehr vom motorisierten Individualverkehr steht, hin zu einem Verkehrssystem, das den öffentlichen Nahverkehr sowie Schienen-, Fahrrad- und Fußgänger*innen-Mobilität stärkt, kommt nicht vor. Eine vertane Chance, denn die reine Antriebswende reicht nicht, um Menschenrechte und die Umwelt in den Rohstoffabbaugebieten im Globalen Süden zu schützen und planetare Grenzen zu achten. Für die Batterien in Elektroautos müssen massenweise Rohstoffe wie Kobalt, Lithium, Nickel, aber auch Kupfer, Eisen und Bauxit abgebaut werden. So wichtig es ist, dass der Verkehrssektor einen Beitrag zum Klimaschutz leistet, so darf dieser nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt in Ländern des Globalen Südens erfolgen. Auch der Verkehrssektor benötigt verbindliche Ziele für die Reduktion des primären Rohstoffverbrauchs. Für eine global gerechte Mobilitätswende braucht es weniger und kleinere Autos auf unseren Straßen und mehr globale Gerechtigkeit.

Bedauerlicherweise konnte sich die Ampel-Koalition auch nicht zur Unterstützung eines weltweiten Moratoriums für Tiefseebergbau durchringen, obwohl die ökologischen und sozialen Folgen dieser Risikotechnologie noch weitgehend unerforscht sind. Die angestrebte verbindliche Überprüfung der Umweltverträglichkeit im Tiefseebergbau ist aus unserer Sicht keineswegs ausreichend.

Zivilgesellschaft und Bildung für nachhaltige Entwicklung

Zivilgesellschaft ist in vielen Ländern ein wichtiger Treiber einer nachhaltigen Entwicklung. Doch ihr Potenzial kann Zivilgesellschaft nur entfalten, wenn sie über ausreichend gesellschaftliche und rechtliche Handlungsspielräume verfügt. Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen weltweit aber immer stärker unter Druck – in vielen Ländern ist ihr Engagement eingeschränkt, Organisationen sind Angriffen, Drohungen und Gewalt ausgesetzt. Es ist daher zu begrüßen, dass der Koalitionsvertrag die stärkere Förderung von Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Kirchen vorsieht und die finanzielle Unterstützung von regierungsnahen Akteur*innen in Partnerländern unter anderem an mehr Freiräume für zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Presse in diesen Ländern geknüpft werden soll.

Die von der Ampel-Koalition angestrebte Vereinfachung der Förderrichtlinien des BMZ und des Auswärtigen Amts wird hoffentlich dazu beitragen, die in den letzten Jahre stark erhöhten administrativen Anforderungen an unsere Partnerorganisationen in Ländern des Globalen Südens an die lokalen Realitäten anzupassen. Dies würde unsere Partner*innen dabei unterstützen, ihre engagierte Arbeit für die armen und sozial benachteiligten Zielgruppen auch unter immer schwierigeren Rahmenbedingungen in vielen Ländern fortzusetzen.

Schließlich begrüßen wir die Stärkung der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit der Zivilgesellschaft im Inland und des Nationalen Aktionsplans zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Eine Konsequenz muss sein, das Budget für entwicklungspolitische Bildung und BNE im Bundeshaushalt deutlich zu erhöhen.

Insgesamt erachten wir den Koalitionsvertrag aus entwicklungspolitischer Perspektive als recht vielversprechend – trotz der Lücken und der teilweise vagen Formulierungen. Wir wissen aber auch, dass Vorhaben und Prüfaufträge noch keine Gesetze und Verordnungen sind. Wir werden in den nächsten vier Jahren die Arbeit der Bundesregierung konstruktiv und kritisch begleiten und freuen uns auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Lesen Sie hier unsere Analyse als PDF

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