Globalisierungskritischer Protest während des WTO-Treffens im mexikanischen Cancún 2003, viele Menschen sitzen auf der Straße
Südlink-Magazin

Sich eine andere Welt vorstellen

Interview mit Shalmali Guttal von Focus on the Global South über die Auswirkungen des Neoliberalismus im globalen Süden und den weltweiten Widerstand gegen ihn

von Shalmali Guttal
Veröffentlicht 5. SEPTEMBER 2023

Während sich in den 2000er Jahren eine breite Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung richtete, ist es zuletzt deutlich ruhiger um die damaligen Initiativen geworden. Verschwunden ist die Bewegung zwar nicht, doch der Fokus und die Herausforderungen haben sich verändert, sagt Shalmali Guttal im Südlink-Interview.

Ab den 1980er Jahren setzten internationale Organisationen wie IWF und Weltbank in den Ländern des globalen Südens neoliberale Politiken durch. Welche Auswirkungen hatte dies?

Diese Politiken haben die Kapazitäten der Länder des globalen Südens untergraben, eine starke, autarke Wirtschaft aufzubauen. Die öffentlichen Strukturen für die Bereitstellung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen wurden abgebaut, die Menschenrechte, Justizsysteme sowie kollektive Ansätze wurden geschwächt. In der Folge verschärfte sich die Armut und verfestigten sich Ungleichheiten aller Art. Als williger Partner von Autoritarismus, Faschismus und Patriarchat ist der Neoliberalismus zudem ein Hauptantrieb für Migration, deren tragische Auswirkungen wir jeden Tag sehen.

Spätestens seit den Protesten gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999 erhielt die globalisierungskritische oder altermondialistische Bewegung, die sich gegen die neoliberale Globalisierung richtete, enorme Aufmerksamkeit. Was ist ihr Vermächtnis?

Ihr größter Erfolg besteht darin, die Kämpfe gegen Kapitalismus, Neoliberalismus, Militarismus, Patriarchat, Rassismus und Extraktivismus globalisiert zu haben. Das ermöglichte die Verbindungen, Zusammenarbeit und Solidarität zwischen sozialen Bewegungen und anderen interessierten Akteur*innen weltweit. Die Bewegung hat Menschen die Kraft gegeben, sich eine andere Welt vorzustellen, die auf Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Menschenrechten, kollektiven Rechten und der Achtung der Natur basiert. Eine Einschränkung bestand jedoch darin, dass sie für die Klassen, die am meisten unter Kapitalismus, Patriarchat und Militarisierung leiden, nicht leicht zugänglich war.

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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
Seinen Siegeszug im Globalen Süden begann der Neoliberalismus mit den Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Lateinamerika. Bald setzten auch Regierungen im globalen Norden auf diese Ideologie der Ungleichheit. Bis heute ist er in vielen Ländern weltweit wirkmächtig.

Woran lag das?

Die Bewegung war stark durch Versammlungen, Märsche und Veranstaltungen geprägt. Dies alles erforderte finanzielle Mittel für Reisen, Visa, Unterkunft und Verpflegung. Oft wurden Solidaritätsgelder gesammelt, um die Teilnahme der am stärksten Betroffenen zu unterstützen, aber diese Gelder reichten nur für einige wenige Vertreter*innen ausgewählter Gemeinschaften und Bewegungen. Und als diese nach Hause zurückkehrten, verfügten sie nicht über die finanziellen und sonstigen Mittel, um Gleichgesinnte zu organisieren.

Zudem gab es Sprachbarrieren: In Asien gibt es so viele Sprachen, aber um an internationalen Treffen teilzunehmen und Dokumente zu lesen, musste man Englisch, Spanisch, Französisch oder Portugiesisch beherrschen. Bewegungen, Netzwerke und Koalitionen mit starken Nord-Süd-Verbindungen taten ihr Bestes, um die Klassen-, Kultur- und Sprachunterschiede zu überbrücken. Aber ihre Ressourcen reichten nicht aus, um eine so breite Basis zu erreichen, wie sie es wollten.

Welche konkreten Auswirkungen auf die Politik hatte die Bewegung?

In vielen Ländern erließen die Regierungen politische Maßnahmen und Gesetze zum Schutz der Rechte von Arbeiter*innen,, Frauen oder indigenen Völkern und stärkten die heimischen Wirtschaft gegenüber der globalisierten Finanzwirtschaft. Es ist uns gelungen, viele Freihandels- und Investitionsabkommen zu vereiteln und die Welthandelsorganisation (WTO) daran zu hindern, globale Rechtsvorschriften für Handels- und Investitionsabkommen zu erlassen.

In den letzten Jahren ist es allerdings ruhig um die Bewegung geworden. Seit der Finanzkrise 2008 ist sie kaum mehr wahrnehmbar, obwohl sie zuvor immer vor derartigen Krisen gewarnt hatte. Was ist passiert?

Die Bewegung ist nicht verschwunden. Aber sie hat ihre Strategien verändert, um auf verschiedene Herausforderungen zu reagieren. Ich glaube, dass viele ihren Fokus auf Bereiche verlagert haben, die mehr unmittelbare Aufmerksamkeit benötigen.

Welche Bereiche sind das?

Drei prominente Beispiele sind die Landwirtschaft, die Finanzpolitik und der Klimawandel. Die Ernährungskrise von 2007/2008 führte zu intensiven Kämpfen. Auf der einen Seite standen Bewegungen für Ernährungssouveränität und indigene Völker, auf der anderen Lebensmittel-, Wasser- und Agrarkonzerne. Die Finanzkrise von 2008 zeigte sehr deutlich die Gefahren der voranschreitenden Finanzialisierung der Realwirtschaft auf. Das ungezügelte Finanzkapital behindert den Zugang der Menschen zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen. Es zeigte sich erneut, dass der Finanzsektor und die Wirtschaft stärker reguliert werden müssen.

All dies hatte ein Jahrzehnt zuvor bereits die Finanzkrise in Asien deutlich gemacht, aber 2008 waren auch die Menschen in den wohlhabenden Ländern damit konfrontiert. Also verlagerte sich der Widerstand gegen den Neoliberalismus von der internationalen in die nationalen Sphären, wo die Krisen am akutesten waren. In den folgenden Jahren kam es zu einem verstärkten Zustrom von Finanzkapital in den Lebensmittel-, Landwirtschafts- und Agrarsektor, während die Regulierung weiterhin im Sinne des Marktes und der Unternehmen ausfiel.

Und der Klimawandel?

Der Klimawandel war bereits seit der Annahme des Kyoto-Protokolls 1997 ein wichtiges globales Thema, das jedoch durch die Lebensmittel- und die Finanzkrise von 2007 bis etwa 2009 noch stärker in den Vordergrund trat. Auch soziale Bewegungen, Gewerkschaften und anti-neoliberale Aktivist*innen aus dem globalen Süden verbanden den Kampf für Klimagerechtigkeit zunehmend mit wirtschaftlicher, finanzieller, politischer, sozialer und geschlechtsspezifischer Gerechtigkeit.  Ökofeministische Bewegungen zeigten die patriarchalischen Dimensionen der Ausbeutung der Natur und des offiziellen Klimadiskurses auf, indigene Völker wiesen auf die Zerstörung großer Teile ihrer biologisch vielfältigen Gebiete hin, und Gewerkschaften setzten sich mit dem Konzept des gerechten Übergangs (just transition) auseinander.

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Aber diese breit gefächerte Bewegung scheint insgesamt doch schwächer zu sein als vor 20 Jahren.

Die anti-neoliberalen Bewegungen sind weiterhin stark. Aber unsere Ziele für den Wandel und die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, haben sich verändert. Eine Herausforderung ist die Ausbreitung des rechten Autoritarismus in den vergangenen 10 bis 15 Jahren. Besonders besorgniserregend sind in diesem Zusammenhang der Antifeminismus und die Zunahme patriarchalischer Ansichten. Dann gibt es noch die Multistakeholder-Ansätze, bei denen Unternehmen mit am Tisch sitzen, um vermeintlich Probleme zu lösen.

Warum ist das problematisch?

Das Multistakeholder-Narrativ behauptet, dass wir alle im selben Boot sitzen, wenn es um die Bewältigung der vielfältigen Krisen unseres Planeten geht. Da der Unternehmenssektor über finanzielle Ressourcen verfügt, die Regierungen und internationale Projekte benötigen, soll er Teil der offiziellen Entscheidungsstrukturen werden. Derartige Ansätze gibt es seit über zwei Jahrzehnten, zum Beispiel beim UN Global Compact, den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) oder den Klimakonferenzen (COPs). Aber seit der Finanzkrise 2008 und dem Vormarsch autoritärer Regime haben sie an Kraft gewonnen.

Es überrascht nicht, dass die Strategien und sogenannten Lösungen, die aus diesen Plattformen hervorgehen, neoliberal, marktorientiert und ahistorisch sind. Sie sind kein angemessener Versuch, um die strukturellen Ursachen der Probleme zu beseitigen. Vielmehr haben Multistakeholder-Ansätze eine demobilisierende Wirkung auf die Widerstandsbewegungen.

Manche Leute vertreten die Meinung, der Neoliberalismus sei bereits tot. Was ist davon zu halten?

Ich glaube nicht, dass der Neoliberalismus tot ist. Rechtsgerichtete Bewegungen und Regierungen im globalen Norden fordern zwar eine protektionistische Wirtschafts- und Sozialpolitik, die rassistisch ist und koloniale Denkweisen widerspiegelt. Reiche Länder haben die finanzielle Macht, zu wirtschaftlichem Protektionismus überzugehen. Die meisten Länder des globalen Südens haben sie jedoch nicht: Sie sind in globalisierten Wirtschafts- und Finanzsystemen gefangen und auf ausländische Investitionen und Exporte angewiesen, um ihre Schulden zurückzuzahlen und ihre Wirtschaft am Laufen zu halten.

Rechtsgerichtete Regierungen im globalen Süden fördern nach wie vor den Neoliberalismus, geben aber bestimmten Ethnien und Religionen die Schuld an seinem Versagen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Nord und Süd sind die enorme Macht der Konzerne und die Feindschaft gegenüber Migration: Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, weil die neoliberale Politik ihre Lebensgrundlagen zerstört hat und sie von rechten Bewegungen verfolgt werden.

Warum ist der Neoliberalismus trotz seiner vielfach negativen Auswirkungen so langlebig?

Die Hauptursachen für die zahlreichen Krisen und ihre Auswirkungen sind der globale Kapitalismus und die Strukturen, die ihn ermöglichen. Seine Befürworter*innen verfügen über die finanziellen und politischen Mittel, ihn mit jeder Krise neu zu erfinden. Hier haben wir es mit Konzernen und Eliten zu tun, die sich mit dem Patriarchat verbünden. Wir müssen darauf hinarbeiten, nicht-kapitalistische Welten zu schaffen, die notwendigerweise vielfältig und kontextabhängig sind, aber universelle Prinzipien von Gerechtigkeit, Gleichheit, kollektiven Menschenrechten, Frieden und Harmonie mit der Natur verkörpern.

Das Interview führte Tobias Lambert.

Shalmali Guttal ist geschäftsführende Direktorin von Focus on the Global South.

Das Interview führte Tobias Lambert.

Shalmali Guttal ist geschäftsführende Direktorin von Focus on the Global South.

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