Protest G8, Mai 2011
Südlink-Magazin

Neoliberalismus in Wort und Tat

Über eine Ideologie der Ungleichheit und ihren Siegeszug in Nord und Süd

von Karin Fischer
Veröffentlicht 29. AUGUST 2023

Als Theoriegebilde ist Neoliberalismus schon etwas älter, aber so richtig wirkmächtig wurde er mit den Militärdiktaturen, die vor einem halben Jahrhundert in Lateinamerika herrschten. Seine Auswirkungen für die breite Bevölkerung waren und sind verheerend – im globalen Norden genauso wie im globalen Süden. Nicht nur ökonomisch ist der Neoliberalismus ein elitäres Projekt der Mächtigen – es ist auch undemokratisch und erfreut sich daher bei Rechtspopulisten großer Beliebtheit.

„Neoliberalismus“ ist ein umstrittener Begriff. Niemand will so recht mit ihm zu tun haben, selten wird er als Selbstzuschreibung verwendet. Dabei gibt es ihn und seine Grundsätze können klar umrissen werden, entgegen mancher Einwände, der Begriff sei zu schwammig. Es stimmt schon, unter seinem Dach versammeln sich verschiedene Denkansätze. Auch in der Praxis erweist sich neoliberale Politik als wendig und anpassungsfähig – abhängig davon, auf welche Gesellschaften er trifft und wieviel Widerstand ihm entgegenschlägt. Neoliberalismus verändert sein Gesicht, wie andere Weltanschauungen auch, im Zusammenspiel von intellektuellen Debatten, sich wandelnden politischen Kontexten und sozialen Kämpfen.

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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
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Südlink 205 - Neoliberalismus
Eine Ideologie der Ungleichheit und ihre Folgen | September 2023
Seinen Siegeszug im Globalen Süden begann der Neoliberalismus mit den Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Lateinamerika. Bald setzten auch Regierungen im globalen Norden auf diese Ideologie der Ungleichheit. Bis heute ist er in vielen Ländern weltweit wirkmächtig.

Sein Klassencharakter allerdings liegt offen zu Tage. Staatliche Einflussnahme in wirtschaftliche Angelegenheiten ist zu begrenzen, die Wirtschaft soll ausschließlich in privaten Händen liegen. Umverteilung gilt als unzulässiger Eingriff, marktförmige Preise senden die wichtigen Signale. Wohlhabende und Vermögende werden begünstigt, weil eine Steuerpolitik, die auf Umverteilung setzt, im neoliberalen Universum keinen Platz hat. Da aus neoliberaler Sicht das Marktgeschehen nur bedingt planbar ist, ist die Unternehmensbesteuerung zu beschränken.

Die globale Peripherie ist wesentlicher Teil eines globalen Neoliberalismus: Im Rahmen einer neuen internationalen Arbeitsteilung soll sie sich für transnationales Kapital öffnen und als Lieferant billiger Nahrungsmittel und Industrieerzeugnisse dienen.

Eine Alternative zum „kollektivistischen Zeitgeist“

Um es gleich zu Beginn klar zu machen: Neoliberalismus hat nichts mit einem schwachen Staat zu tun. Im Gegenteil, es braucht den Staat, geeignete Institutionen und politische Eingriffe, um eine Wettbewerbsordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Das war die wichtige Einsicht der neoliberalen Vordenker, die sich im Europa der Zwischenkriegszeit über den Niedergang des klassischen Liberalismus Gedanken machten. Dort, im Zentraleuropa der 1920er Jahre, liegen die historischen Wurzeln des Neoliberalismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Neoliberalen – diesen Namen haben sie sich in bewusster Abgrenzung zum klassischen Liberalismus selbst gegeben – darum, dem „kollektivistischen Zeitgeist“ entgegenzutreten. Das war in ihren Augen der Kommunismus im Osten, Keynesianismus und Sozialstaatsdenken im Westen sowie eine staatlich geförderte, importsubstituierende Entwicklung im globalen Süden. Noch weit entfernt von strategischen Machtpositionen organisierten sich die – zu diesem Zeitpunkt vor allem aus West- und Nordeuropa sowie den USA stammenden – Neoliberalen in Netzwerken wie der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, um mit Grundlagenarbeit, internationaler Vernetzung und dem Aufbau von Think Tanks den Zeitgeist zu beeinflussen.

Die Entstehungsgeschichte des Neoliberalismus macht die Breite neoliberaler Ansätze und Politikformen verständlich und ermöglicht es zugleich, das Verbindende zu sehen. Das Gründungsdokument der Mont-Pèlerin-Gesellschaft von 1947, auf die sich so unterschiedliche Denker wie Friedrich August von Hayek von der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, der deutsche Ordoliberale Wilhelm Röpke und der Chicago-Ökonom Milton Friedman einigten, liefert dafür einen Anhaltspunkt.

Freier Markt und freies Unternehmertum, Wettbewerbsprinzip und marktbestimmte Preismechanismen sowie eine privatkapitalistische Eigentumsordnung werden darin als Grundsätze formuliert. Der Staat, und das ist neu und anders als im klassischen Laisser-faire-Liberalismus, sorgt für Mindeststandards im Bereich der Bildung und Gesundheit (solange sie das Funktionieren der Märkte nicht behindern) sowie für „unverzichtbare Dienstleistungen“ in der Währungspolitik und bei der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung.

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Staatliche Eingriffe braucht es schon deshalb, um bestehende Institutionen, Gesetze und Regulierungen zu demontieren („Roll-back“) und neue zu schaffen, die die Vermarktlichung der Gesellschaft vorantreiben und eine marktförmige politische Steuerung gewährleisten („Roll-out“). Nicht einmal in der Hayekschen Variante gingen Neoliberale davon aus, dass sich eine Wettbewerbsordnung und eine marktförmig organisierte Gesellschaft ohne Zutun entwickeln würden. Neoliberale Ordnungspolitik verlangt nicht nach weniger, sondern nach einem anderen Staat und nach entsprechenden Institutionen, die den Markt als Ordnungsprinzip sicherstellen.

Der Neoliberalismus fremdelt mit der Demokratie und einer unbeschränkten Anwendung des Mehrheitsprinzips. Denn es tut sich ein Spannungsfeld auf zwischen demokratischen Entscheidungsprozessen und dem aus neoliberaler Sicht notwendigen Primat einer staatlichen Gewährleistung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit. „Marktinstitutionen“ sollen deshalb demokratischer Einflussnahme entzogen werden.

Neoliberale unterscheiden zwischen „totalitär“ und „autoritär“. Für Neoliberale ist eine Ordnung totalitär, wenn sie liberale Grundsätze wie das Privateigentum an Produktionsmitteln missachtet oder organisierte Interessengruppen – hier sind naturgemäß Gewerkschaften gemeint – Politik beeinflussen. Deshalb bezeichnete Hayek Salvador Allendes Unidad-Popular-Regierung in Chile als „totalitär“, gegen die die „autoritäre Notwehr“ der Militärs gerechtfertigt gewesen sei. In einem berühmt gewordenen Interview im chilenischen „El Mercurio“ sagte er 1981, dass er eine liberale Diktatur gegenüber einer demokratischen Regierung bevorzuge, in der jeder Liberalismus fehle.

Wie der Neoliberalismus im Süden durchgesetzt wurde

Häufig wird die Ankunft des Neoliberalismus im Globalen Süden mit der internationalen Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre datiert. Diese war das Einfallstor für Weltbank und Internationalen Währungsfonds (und das US-Finanzministerium), die „Abwicklung“ des staatlich gelenkten, binnenorientierten Entwicklungsmodells zu verlangen und marktkonforme Regulierungen einzuführen. Der Startpunkt lag aber schon früher. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren setzten die Militärregierungen in Südamerika, besonders radikal in Chile, gemeinsam mit ihren zivilen Verbündeten, radikale Liberalisierungsschritte.

Das zeigt: Antikommunismus, Repression gegen Opposition und Gewerkschaften sowie der Diskurs der nationalen Sicherheit gehen ausgezeichnet mit wirtschaftsliberalen Maßnahmen zusammen. Autoritären Regimen gelingt es sogar besser als demokratischen Regierungen, die Kriterien von Weltbank und Währungsfonds zu erfüllen, weil sie die Opposition ausgeschaltet oder geschwächt haben.

Im Kontext der internationalen Schuldenkrise wurden die verschuldeten Länder in Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa ab den 1980er Jahren rigiden Strukturanpassungsmaßnahmen unterworfen. Die Auflagen für den Erhalt neuer Kredite beinhalteten sämtliche Leitlinien neoliberaler Politik: Vorrang für Geldwertstabilität, Inflationsbekämpfung durch Kürzungen im öffentlichen Sektor, Rücknahme von Preisstützungen für Grundnahrungsmittel, ein Ende der Subventionen für die binnenmarktorientierte Industrie, weitreichende Privatisierungen und eine umfassende Öffnung für Importe und Exporte und für ausländisches Kapital.

Soziale Krisen folgten auf dem Fuß. An vielen Orten – unter anderem in Bolivien und Argentinien, Polen und Jugoslawien, Sudan und Zaire, auf den Philippinen und in Indien – kam es in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu Protesten und Hungerrevolten. Traurige Berühmtheit erlangte der „Caracazo“ in Venezuela im Jahr 1989, dem die Regierung von Carlos Andrés Pérez mit tödlicher Repression begegnete.

Die Strukturanpassungsprogramme bewirkten – nicht überall sofort und in unterschiedlicher Reichweite, manchmal im Bündnis mit den lokalen Herrschaftseliten, manchmal gegen sie – eine entwicklungsstrategische Wende, die die Gesellschaften im globalen Süden wieder stärker den Zwängen der Weltwirtschaft und ihrer Preismechanismen aussetzte.

Die Durchsetzung neoliberaler Politik war eine Kampfansage an den Entwicklungsstaat, die Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung und die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO), die in den 1970er Jahren von der Gruppe der 77 und der Bewegung der Blockfreien lautstark vorgetragen wurde. In ihrem koordinierten Auftreten kritisierten die Länder des globalen Südens die herrschende Ordnung als eine Fortschreibung kolonialer Strukturen.

Sie forderten, die Spielregeln der Weltwirtschafts-, Weltfinanz- und Welthandelsordnung in ihrem Sinne zu verändern, unter anderem durch eine Neuregelung der Stimmrechte in IWF und Weltbank, eine Preisstabilisierung bei Rohstoffexporten und Präferenzabkommen im Handel mit den (ehemals) kolonisierten Ländern. Noch in den 1970er Jahren stand eine Nationalisierung ausländischer Unternehmen in strategischen Sektoren auf der Tagesordnung. Strukturanpassung und der sogenannte Washington Consensus versetzten diesen progressiven Ambitionen den Todesstoß.

Neoliberale Reformen blieben umkämpft

Dennoch, so ganz zufrieden konnten die Neoliberalen mit dem Transformationsprozess nicht sein. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die politischen Maßnahmen des Washington Consensus im globalen Süden nicht auf Dauer institutionell verfestigt. Eine zweite Generation an Reformen, meist als „Post-Washington-Consensus“ betitelt, sollte genau dies leisten, nämlich „Institutionen für Märkte schaffen“, wie der Weltbankbericht von 2002 hieß. Aber neoliberale Maßnahmen blieben umkämpft.

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Die Europäische Union kommt einer neoliberalen Wettbewerbsordnung schon näher. Den europäischen Integrationsprozess kennzeichnet eine koordinierte Deregulierung. Maastricht-Vertrag, Währungsunion sowie Stabilitäts- und Wachstumspakt schreiben den teilnehmenden Ländern fiskalpolitische Kriterien vor. Die Währungsunion ist der erste supranationale Vertrag, der demokratisch verwaltete öffentliche Finanzen dauerhaft festen rechtlichen (neoliberalen) Regeln unterwirft. Der Prozess der europäischen Integration hat, wiewohl nicht geradlinig und gegen Widerstände, den Pfad neoliberaler Transformation befördert und progressive Akteure und Alternativen geschwächt.

Heute scheinen die politischen Koordinaten verrutscht. Autoritäre und weit rechts stehende Politiker*innen kritisieren die EU und den Euro. Donald Trump wandte sich gegen die Transpazifische Partnerschaft und unterzeichnete nach seinem Amtsantritt ein Dekret zum Ausstieg aus dem Freihandelsvertrag. Rechtspopulisten kritisieren die wirtschaftliche Globalisierung und ihre kulturellen Folgen.

Die Lage ist unübersichtlicher geworden, aber wir sollten uns nicht täuschen lassen. In der Alternative für Deutschland (AfD) tummeln sich in führenden Positionen Mitglieder der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Das ungarische Orbán-Regime weist die niedrigsten Unternehmenssteuern in der EU auf. In Österreich stehen die Freiheitliche Partei (FPÖ), die EU-skeptische Allianz der Konservativen (ACRE) und die neoliberalen Think Tanks Austrian Economic Center und Hayek Institut in einem engen personellen und finanziellen Zusammenhang.

Trumps Ablehnung eines multilateralen Freihandelsabkommens wiederum steht im Dienste eines sogenannten „Freihandelsnationalismus“: aggressiver Unilateralismus und einseitig verkündete Handelskriege gelten als zielführender, um internationale Märkte für US-Kapital und -Unternehmen zu öffnen. Das zeigt abermals: Konservativismus und Autoritarismus im sozialpolitischen Feld können hervorragend mit einer Politik des freien Marktes einhergehen.

Es gibt kein neoliberales Utopia

Neoliberale Weltanschauungen und Politiken haben sich seit den 1970er Jahren weltweit verbreitet, auch weil ehemalige Gegner*innen – man denke an den Dritten Weg der Sozialdemokratie im Norden oder ursprünglich als Linke angetretene Präsidenten im Süden – diese übernommen haben. Dass neoliberale Kernideen von konkurrierenden politischen Strömungen absorbiert wurden, ist ein wesentlicher Grund für die Langlebigkeit des Neoliberalismus.

Die tiefen Krisen der jüngeren Vergangenheit haben nicht zu seiner Überwindung geführt. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 oder die Coronavirus-Pandemie gaben Anlass zu staatlichen Eingriffen. Die Maßnahmen waren aber zeitlich begrenzt oder nicht nachhaltig – eine Folge der anhaltenden Wirkkraft neoliberaler Leitsätze und der Aushandlungsprozesse, in denen sich am Ende jene Kräfte durchsetzten, die den Status quo erhalten wollen.

Die Euro-Krise brachte dem Süden Europas gar harte Strukturanpassungspakete, wie wir sie aus dem globalen Süden kennen. Die langjährige Praxis der Vermarktlichung und Privatisierung lässt sich schwer revidieren, sei es in EU-Europa oder in Ländern des globalen Südens. Die Krisenpolitik erinnert an eine Aussage Augusto Pinochets nach der tiefen Wirtschaftskrise Anfang der 1980er Jahre, in der als Antwort auf die sozialen Proteste einige Hardcore-Neoliberale entlassen wurden und die Staatsquote in Höhen stieg, die selbst Allende nicht erreicht hatte. Für Pinochet war das „ein Schritt zur Seite, um wieder Kraft zu erlangen“. Als sich die Krise abschwächte, kehrte das Regime zu einer strikt neoliberalen Makropolitik zurück.

Ein neoliberales Utopia gibt es nirgendwo. Internationale Investitionsschutzabkommen und Wirtschaftsschiedsgerichte, intellektuelle Eigentumsrechte und Finanzmarktregelungen kommen einer neoliberalen Wettbewerbsordnung wohl am nächsten. Aber selbst die Privatstädte in Honduras müssen sich Parlamentsbeschlüssen beugen.

Um die Wirkkraft neoliberaler Ideen einschätzen zu können, müssen wir die Interventionen ihrer Vertreter*innen sorgfältig analysieren. Hilfreich ist es, dabei nicht nur deren „Bewegungen“, sondern auch die Gegenbewegungen im Blick zu haben. Dabei hilft uns ein Kompass, mit dem wir politische Kompromisslinien beurteilen können: Schränken Vorschläge oder Maßnahmen Kommodifizierung und Finanzialisierung ein? Verbreitern sie sozialen Schutz und Solidarität? Erweitern Maßnahmen oder Vorschläge für eine Deglobalisierung kollektive  Selbstbestimmung im globalen Süden? Und über allem die Gretchenfrage: cui bono, wem nützt es?

Karin Fischer ist historische Sozialwissenschaftlerin und leitet den Arbeitsbereich Globale Soziologie und Entwicklungsforschung des Instituts für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz.

Karin Fischer ist historische Sozialwissenschaftlerin und leitet den Arbeitsbereich Globale Soziologie und Entwicklungsforschung des Instituts für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz.

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