Eine Person, die mit einem Motorrad eine Straße neben hohen Gebäuden entlang fährt
Südlink-Magazin

Zukunft und doch nicht die Zukunft

Ausländische Studierende aus dem Globalen Süden machen in China teilweise überraschende Entdeckungen.

von Andrea Burgos
Veröffentlicht 9. JUNE 2023

Privilegien, Rassismus, nicht bediente Erwartungshaltungen. Jenseits vom Studienplan gibt die Salvadorianerin Andrea Burgos einen sehr persönlichen Einblick in ihren Aufenthalt in einer chinesischen Metropole. 

Die Reise von San Salvador nach Shanghai ist in mehr als einer Hinsicht eine Reise in die Zukunft. Ich kam Ende September 2019 kurz vor der Pandemie in China an. Meine Geburtsstadt blieb aufgrund der Zeitverschiebung einen halben Tag zurück. Der immense Flughafen Pudong weckte in mir Erinnerungen an den feindseligen Empfang durch die US-Migrationsbehörden bei meinen Einreisen in die USA. Doch niemand hielt mich auf, niemand sah mich argwöhnisch an. Aufgrund der automatisierten Vorgänge nach der Landung konnte ich mich schnell durch den Flughafen bewegen. Nach 36 Stunden Flug mit vier Zwischenstopps war nur eins dringlich für mich: eine SIM-Karte, um meine Lieben zu benachrichtigen. Am Ende der Welt angekommen, „Alles in Ordnung“.

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Südlink 204 - China und der Globale Süden
Zwischen Chancen und neuen Abhängigkeiten | Juni 2023
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Südlink 204 - China und der Globale Süden
Zwischen Chancen und neuen Abhängigkeiten | Juni 2023
In den letzten Jahrzehnten hat sich China in eine ökonomische und politische Großmacht verwandelt. Auch durch die sogenannte „Neue Seidenstraße“, an der China seit 2013 baut. Für den Globalen Süden bedeutet dies neue Chancen, aber auch einige große Gefahren. Die auch…

Die Straßen waren ruhiger, bräunlicher und weniger modern als ich erwartet hatte. Meine Vorstellung von hunderten futuristischen Gebäuden wurde schnell enttäuscht. Die meisten Fassaden litten sichtbar unter der Luftverschmutzung und selbst oberhalb des dreißigsten Stockwerks hing frisch gewaschene Wäsche aus den Fenstern. Dem pompösen Neonlicht gelang es letztendlich nicht, der riesigen Stadt Farbe zu verleihen. Es war nicht der funkelnde Anblick, den die Medien versprachen, sondern eine Stadt voll von Personen mit einem gewöhnlichen Leben.

San Salvador ist klein, ohne Wolkenkratzer. Dennoch hatte ich auch bei dieser Metropole den Eindruck: Diese Straßen, den meinen so fremd, waren nur eine Erweiterung des Planeten, den ich bewohne. „Weltbürgerin“, würden Expats oder digitale Nomad*innen wohl sagen. Aber als Migrantin aus dem Globalen Süden anzumerken, „dieses reiche Land blendet mich nicht“, ist praktisch ein Tabu. 

Dennoch gab es viele Überraschungen. Wenn auch keine bevorzugte Expat, war ich doch Ausländerin. Ausreichend für eine privilegierte Behandlung. Im Unterschied zu den Chines*innen, denen dies ganz klar untersagt ist, haben wir Ausländer*innen unbeschränkten Internetzugang innerhalb Chinas. Dieselben Diplomat*innen, die uns die Stipendien gewährten, drängten uns, vor unserer Ausreise ein virtuelles privates Netzwerk (VPN) einzurichten.

Auf dem Campus merkte ich, dass wir „Internationale“ weniger volle Zimmer erhielten, die zudem ein eigenes Bad hatten. Die Behörden trennten uns nach Glauben. Die unterschiedliche Behandlung schloss von der Universität organisierte Aktivitäten nur für uns ein, auf denen wir uns vorstellten und kennenlernten. Es gab sehr wenige Europäer*innen und diese finanzierten sich das Studium mit eigenen Mitteln. Die große Mehrheit waren Stipendiat*innen aus afrikanischen Ländern und dem Mittleren Osten, nur ein paar kamen aus Lateinamerika.

Meine Zimmergenossin war eine wunderbare Studentin aus dem Tschad, ebenso wie ich bekam sie das Stipendium von der chinesischen Regierung in ihrem Heimatland und war genauso neu in China wie ich. Aber ihr Bruder und weitere Verwandte waren schon vor ihr dagewesen. Meiner Familie wäre es nicht einmal im Traum eingefallen, so weit zu reisen. Sie erzählte mir, ihre Familie und viele ihrer Landsleute versuchten zu emigrieren, um zu studieren, ihre Lebensbedingungen zu verbessern oder besser bezahlte Jobs bei den chinesischen Öl- und Bauunternehmen zu bekommen, die in ganz Afrika tätig sind.

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Die kulturelle Tragweite der Neuen Seidenstraße

Ich hatte zuvor über die Neue Seidenstraße und die vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Strategien der Kommunistischen Partei Chinas gelesen, um die Länder mit einem hohen Kreditausfallrisiko auf Chinas Seite zu ziehen. Die Erfahrung meiner Kommilitonin gab dem ein Gesicht, aber vor allem einem weniger beachteten Aspekt: der kulturellen Tragweite der Neuen Seidenstraße. 

Wir Stipendiat*innen wollten mehr Chancen für unsere Leben, aber wir waren auch Teil einer subtileren Strategie, die die Neue Seidenstraße begleitet. Meine Reise nach Shanghai hinterließ ein Vorgefühl für eine Entwicklung, die in meinem Land gerade erst begonnen hatte, in anderen Ländern wie dem Tschad jedoch schon mehrere Jahre andauerte. Meine afrikanischen Kommiliton*innen dachten bei China auch Migrationsketten mit Familien- und Freundschaftsnetzwerken mit, ebenso die in den vergangenen Jahren in ihren Ländern verbreiteten technologischen Produkte und sogar ein nicht mehr völlig fremdes, nicht mehr völlig unverständliches Mandarin. Auf gewisse Weise schien sich die kulturelle Kluft zu verringern.

 

Trotz dieser chinesisch-afrikanischen Annäherung bestürzte mich der Rassismus, den ich erlebte. In einer Lehrveranstaltung fragte eine deutsche Dozentin uns nach unserem größten Kulturschock. Einige erwähnten die fehlenden Toilettenbecken, andere die Süße im Essen, selbst bei Chips. Eine Kommilitonin bemerkte: „Wir werden ohne unsere Zustimmung fotografiert.“ Eine chinesische Studentin tat das verärgert ab: „Weder sind alle unsere Toiletten so, noch ist unser Essen komisch. Und die einzigen, die Fotos von euch machen, sind die Personen, die vom Land kommen, weil sie nie zuvor jemand mit eurer Hautfarbe gesehen haben.“

Wenige Tage nach dieser Episode fuhr ich mit meiner Zimmergenossin zum riesigen Einkaufsviertel an der Nanjing-Straße. Ein chinesischer Mann filmte sie in der Metro ohne jegliche Zurückhaltung. „Sieh ihn dir an“, sagte sie mir, während sie dem einfach nur lachenden Mann fest in die Augen schaute, „der glaubt, er ist im Zoo“.

Mein Land nahm vor einigen Jahren diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China auf, darum konnte ich diese Realität aus der Nähe kennenlernen. Unsere schwache Position verlangt, die uns angebotenen „Geschenke“ ständig zu hinterfragen. An der Uni hörte ich mehrere Vorlesungen, in denen eine globale wirtschaftliche Führungsrolle Chinas prophezeit wurde, die verantwortlicher werde sein als die der USA. Leider richtet sich die Öffnung Chinas gegenüber der Welt nicht mit derselben Begeisterung auf die Menschenrechtsagenda des globalen Südens wie auf die berühmten Fastfood-Ketten. Die Beziehungen mit der neuen ersten Wirtschaftsmacht werden ohne dekoloniale Reflektion der Welt jedoch nichts Neues bringen. 

 

Aus dem Spanischen von Gerold Schmidt.

Andrea Burgos ist eine salvadorianische Künstlerin und Infografikerin. An der Universität von Shanghai studierte sie einen Master in digitaler Kunst und kämpfte damit, Mandarin zu lernen.

Andrea Burgos ist eine salvadorianische Künstlerin und Infografikerin. An der Universität von Shanghai studierte sie einen Master in digitaler Kunst und kämpfte damit, Mandarin zu lernen.

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