Vielschichtige Erinnerung
Die deutsche Kolonialzeit in Tansania ist fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankert – ein Gespräch mit dem Historiker Reginald Kirey
Das heutige Tansania war als „Deutsch-Ostafrika“ von 1885 bis 1918 deutsche Kolonie. Das Land setzt sich auf vielfältige Weise mit seiner Vergangenheit auseinander. Gedenkorte erinnern unter anderem an die brutale Unterdrückung des Maji-Maji-Aufstands (1905 bis 1908) durch die Kolonialmacht. Doch die kollektive Erinnerung ist viel umfangreicher und von großer Bedeutung für die postkoloniale Identität im Land.
Reginald Kirey ist sich sicher: „Die Menschen in Tansania haben transgenerationale, kollektive Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit. Und sie teilen diese Erinnerung untereinander, die mündliche Überlieferung ist sehr wichtig.“ Besonders in den Regionen, wo sich die Kolonialverbrechen wie der Mord an den Anhängern der Maji-Maji-Bewegung konzentrierten, werde heute noch erzählt, wie die Deutschen die Vorfahren folterten, auspeitschten, hängten. „Aber“, so der Historiker, der an der Universität von Daressalam zum Thema Erinnerungsstudien forscht und lehrt, „auch die späteren Mahn- und Denkmäler spielen im kollektiven Bewusstsein eine enorme Rolle.“
Aus seiner Sicht verleihen viele der in den Jahren nach der Unabhängigkeit Ende 1961 errichteten Gedenkorte den Traumata Ausdruck, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. „Allein die Anzahl der Denkmäler in den Regionen Moshi und Songea zeigt, wie sehr die kollektive Erinnerung bei den Menschen präsent ist. Für mich sind diese Orte eine Auslagerung dessen, was in den Köpfen vorgeht. Die Monumente kommunizieren für mich eine Botschaft: Vergessen ist unmöglich. Wir müssen die nächsten Generationen daran erinnern, was wir erlitten haben.“ Sinnbildlich sei dafür das Maji-Maji-Erinnerungsmuseum in Songea. Der direkte Krieg gegen den breiten Zusammenschluss verschiedener Ethnien und die nachfolgende von den Deutschen provozierte Hungersnot forderten nach neuen Schätzungen 250.000 bis 300.000 Tote unter der Bevölkerung.
Kirey weist darauf hin, dass die kolonialen Erinnerungen je nach Region unterschiedlich ausgeprägt sind: „Nicht immer sind sie negativ. Sie hängen stark davon ab, wo und wie die Vorfahren mit den Deutschen interagierten.“ An Orten, an denen die direkte Gewalt nicht so prägend war, habe die Erinnerung manchmal nostalgischen Charakter. Dies betreffe beispielsweise eine Reihe von Bauwerken und Anlagen aus der deutschen Kolonialzeit in Daressalam: „Das ehemalige Europäische Krankenhaus, in dem heute Krebspatienten behandelt werden, der botanische Garten, Verwaltungsgebäude. In anderen Landesteilen auch viele Kirchen, die heute noch genutzt werden.“
Der geschlagenen Kolonialmacht folgten die britischen Kolonialherren. Diese fanden umfangreiches deutsches Archivmaterial. Teile davon übergaben die Briten Anfang der 1960er Jahre an die postkoloniale Regierung unter Julius Nyerere. Die Dokumente werden nicht in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert, sie befinden sich heute im tansanischen Nationalarchiv in Daressalam. Für Reginald Kirey gehören sie dennoch fest zur Erinnerungskultur. „Die Archive belegen mit ihren Dokumenten, dass wir Opfer des Kolonialismus sind. Zugleich sind diese Dokumente heute Teil unserer Identität.“
Abonnieren Sie den Südlink
Im Südlink können Autor*innen aus dem Globalen Süden ihre Perspektiven in aktuelle Debatten einbringen. Stärken Sie ihnen den Rücken mit Ihrem Abo: 4 Ausgaben für nur 18 Euro!
Wenn es auch unter der jüngeren Generation in Tansania eine kollektive Erinnerung an die Kolonialzeit gibt, so fällt den Bildungseinrichtungen des Landes ein Verdienst zu, erklärt Kirey. „Wir räumen dem Thema Kolonialismus in den Schulen und an der Universität breiten Raum ein, auch der deutschen Kolonialperiode. Es gibt Exkursionen zu den historischen Stätten wie im Fall der Maji-Maji-Bewegung zu den Gräbern der Vorfahren.“ Mit didaktischen Materialien werde erläutert, wie sich die Kolonialmacht nach und nach im Land festsetzte, welche Auswirkungen dies auf die Wirtschaft hatte.
„Wir zeichnen die Unterwerfung unter die kolonialen Regeln nach, die Zwangsarbeit zu Hungerlöhnen, die Landnahme durch deutsche Siedler, die uns das Recht auf Nahrung nahm, der Kampf unserer am Ende unterlegenen Chiefs verschiedener Völker.“ Doch nicht nur über die Unterdrückungsgeschichte werde gelehrt. „An der Universität gibt es eine Menge Kurse zur Kolonialgeschichte, wir arbeiten sie aus verschiedensten Perspektiven auf. Kurzum: Es gibt eine Menge Dokumente, Untersuchungen, Veröffentlichungen. Das Wissen ist vorhanden.“
In vielen einst kolonisierten Ländern des globalen Südens beinhaltet die postkoloniale Perspektive heute die Forderungen nach Reparationen, Restitution von Raubobjekten und die Rückgabe geraubter menschlicher Gebeine. „Das war in Tansania bereits früher gelegentlich ein Thema, doch erst in jüngster Zeit wird mehr darüber diskutiert“, sagt Kirey. „Oft entstehen solche Initiativen auf lokaler Ebene. So fordert das Volk der Chagga die Schädel seiner Vorfahren zurück.
Bekannt ist besonders der Fall von Chief Mangi Meli aus der Region Moshi.“ Die Deutschen hängten Mangi Meli 1900, nachdem sie ihm wegen angeblichem Hochverrat den Prozess machten. Anschließend enthaupteten sie den Chief sowie weitere hingerichtete Männer. Wegen der Suche nach den Schädeln gibt es auch Kontakt mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in deren Museen tausende menschliche Überreste aus den kolonisierten Ländern gelagert sind. „Die tansanische Regierung wird von lokalen Initiativen häufig um Mithilfe gefragt“, so Kirey, „inzwischen sind Regierung, Parlament und die nationalen Museen wesentlich aktiver“.
Reginald Kirey forscht und lehrt über postkoloniale Erinnerungen an den deutschen Kolonialismus in Tansania. Er promovierte an der Universität Hamburg an der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“.
Das Gespräch führte Gerold Schmidt und übertrug es aus dem Englischen
Reginald Kirey forscht und lehrt über postkoloniale Erinnerungen an den deutschen Kolonialismus in Tansania. Er promovierte an der Universität Hamburg an der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“.
Das Gespräch führte Gerold Schmidt und übertrug es aus dem Englischen
INKOTA-Newsletter
Unsere Aktionen, Veranstaltungen, Projekte: Melden Sie sich jetzt für unseren E-Mail-Newsletter an.