Hände halten einen Stapel orangefarbenen Leders
Südlink-Magazin

Gefährliche Arbeit in Indiens Gerbereien

Wie kann das deutsche Lieferkettengesetz Arbeiter*innen zu ihrem Recht verhelfen?

von Anne Neumann
Veröffentlicht 8. DEZEMBER 2023

Sie stehen ganz unten in der Hierarchie der Arbeiter*innen der indischen Lederindustrie: die Klärgrubenreiniger, die einen entwürdigenden und zugleich gefährlichen Job ausüben. Wenn ihnen etwas passiert, bekommen sie selten Unterstützung und eine angemessene Entschädigung. Das deutsche Lieferkettengesetz könnte dazu beitragen, einen Teil dieser Missstände zu beheben, wie ein Beispiel aus Ranipet zeigt.

Am 16. Mai 2023 meldeten sich vier Männer morgens in der Andaal-Gerberei in Ranipet zur Arbeit. Die Kleinstadt am Ufer des Palar-Flusses ist einer der Hauptstandorte der südindischen Lederindustrie. Durch die Nähe zum Welthafen Chennai wird hier auch für den Export produziert. In Ranipet gibt es sowohl Produktionsstätten für pflanzliche Gerbung und Chromgerbung sowie das Finishing von Leder als auch für die Herstellung von Schuhoberledern und von Schuhen.

2012 waren nach offiziellen Zahlen rund 80.000 Menschen in Ranipet in der Schuh- und Lederindustrie beschäftigt. Die tatsächliche Zahl dürfte wegen der vielen informellen Arbeitsverhältnisse wesentlich höher liegen. Auch die vier Männer, deren Geschichte wir hier erzählen, waren nicht formell dauerhaft angestellt.

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Am 16. Mai gab der Vorarbeiter der Gerberei den vier Männern die Möglichkeit für vier Stunden für einen Pauschallohn zu arbeiten. Ihre Aufgabe: Sie sollten das etwa vier Meter tiefe Klärbecken hinter der Gerberei reinigen. Alle drei Monate wird das Klärbecken von Hand gereinigt. Die Männer hatten diese Aufgabe in der Gerberei schon häufig erledigt. Sie trugen keinerlei Schutzausrüstung und waren permanent den giftigen Gasen in dem Klärbecken ausgesetzt.

Diskriminiert und schlecht bezahlt

In Indien ist es noch immer weit verbreitet, dass alle möglichen Latrinen und Klärgruben von Menschen mit Eimern und Schaufeln ausgeleert und gereinigt werden. Obwohl seit 1993 der Bau von automatischen Abwassersystemen gesetzlich vorgeschrieben ist, besteht die entwürdigende Arbeit der Safai Karamchari, der Klärgrubenreiniger, auch weiterhin.

Die Safai Karamcharis sind stark stigmatisiert. Für sie werden geregelte Arbeitsverhältnisse oder Schutzausrüstung oft gar nicht in Betracht gezogen. Das System ist seit Jahrhunderten etabliert und wegen der schlechten Bezahlung erledigen die Safai Karamcharis die Aufgabe vermeintlich billiger als automatisierte Abwasser- und Kläranlagen. Viele der schlecht ausgebildeten Safai Karamcharis, die kastenlos sind oder aus niederen Kasten stammen, sind froh, überhaupt ein Einkommen zu verdienen.

Als das Klärbecken in der Andaal-Gerberei am 16. Mai schon fast sauber war, stürzte einer der Arbeiter von der Leiter und fiel fast vier Meter bis zum Boden des Beckens. Die anderen drei Männer hörten ihn schreien und kletterten in das Becken, um ihm zu helfen. Noch auf der Leiter wurden alle drei Männer ohnmächtig und stürzten ebenfalls in die Tiefe. Der Sicherheitsdienst der Gerberei hatte den Vorfall bemerkt und rief die Feuerwehr und Krankenwagen. Als die Rettungskräfte eintrafen, war Senthamizh Selvan tot, die drei anderen Arbeiter waren schwer verletzt.

Die Polizei begann zu ermitteln und erstattete Strafanzeige gegen den Besitzer der Gerberei -allerdings nur wegen möglicher Verletzungen von Arbeitsrechten. Er wurde nicht wegen der Verletzung des Verbots der manuellen Klärgrubenreinigung an sich oder wegen der Diskriminierung der Männer durch die entwürdigende Arbeit angezeigt.

Vom Eigentümer der Gerberei erhielt die Familie des verstorbenen Senthamizh Selvan im Beisein der Polizei eine Sofortentschädigung in Höhe von 50.000 Rupien (umgerechnet circa 560 Euro). Dafür sollte die Familie einen Brief unterzeichnen, in dem sie zusichert, keine weiteren Forderungen zu stellen oder weitere Schritte zu unternehmen. Von der Polizei und lokalen Vertretern politischer Parteien wurden die Angehörigen gedrängt, die Entschädigungszahlung anzunehmen und den Verstorbenen schnell zu beerdigen.

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Zum Glück boten die beiden lokalen NGOs Thendral Movement und RLTALPF den Angehörigen des Verstorbenen und den verletzten Arbeitern ihre Hilfe an. Vor allem Selvans Mutter sowie dessen Ehefrau und die beiden Kinder im Alter von drei Jahren und zwei Monaten sind auf Unterstützung angewiesen.

Die NGOs setzten sich auf politischer Ebene dafür ein, dass die Strafanzeige geändert wird, und erreichten die Zusage für eine Entschädigungszahlung durch die staatliche Wohlfahrtsstelle DADWO. Zusätzlich sagte auch der Vorsitzende der nationalen Kommission für die Safai Karamcharis der Familie Unterstützung zu. Das Geld reicht jedoch nicht einmal aus, um alle entstandenen Kosten – insbesondere die Beerdigungskosten für Senthamizh Selvan – abzudecken. Wenn keine weitere Unterstützung kommt, wird die Familie noch stärker in die Armut rutschen.

Ob der Gerbereibesitzer von indischen Gerichten strafrechtlich oder zivilrechtlich verurteilt wird und die Opfer auf diesem Wege weitere Entschädigungszahlungen durch diese Gerichtsverfahren erhalten, ist unklar. Ebenso ungewiss ist, ob diese Gerichtsprozesse zur Beendigung der unwürdigen und gefährlichen Arbeit der Klärbeckenreinigung in den Gerbereien beitragen können. Klar ist allerdings, dass eine solche gerichtliche Klärung in Indien lange auf sich warten lassen kann und für die Betroffenen sehr aufwendig ist.

Hoffnung durch das Lieferkettengesetz

Was können wir von Deutschland aus dazu beitragen, dass die Opfer und Angehörigen bei solchen Menschenrechtsverletzungen schnellere und bessere Abhilfe erhalten? Bereits 2011 hatte die UNO festgelegt, dass bei Menschenrechtsverletzungen in der Wirtschaftswelt die Betroffenen auch von den beteiligten Wirtschaftsunternehmen in der Lieferkette Abhilfe bekommen müssen.

Die Andaal-Gerberei ist eine Exportgerberei. Sie ist also in globale Lieferketten eingebunden. Laut UNO-Recht sind auch die indischen und internationalen Einkäufer des Leders der Andaal-Gerberei dafür verantwortlich, dass die Opfer vom 16. Mai 2023 Wiedergutmachung erhalten. Außerdem müssen die Einkäufer sicherstellen, dass in der Gerberei die Abwässer mit automatisierten Kläranlagen entsorgt werden. Internationales Recht wird jedoch viel zu häufig einfach ignoriert.

Immerhin können Unternehmen in Deutschland die Regeln des UNO-Rechts nicht mehr so einfach ignorieren: Seit Anfang 2023 gilt für viele Unternehmen das Lieferkettengesetz. Es regelt die Pflicht der Unternehmen, bei Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten für Abhilfe zu sorgen. Gegen Unternehmen, die dem nicht nachkommen, können Bußgelder verhängt werden.

Wo Gerbereien wie Andaal Leder für deutsche Schuhunternehmen produzieren, sind diese nun auch nach deutschem Recht in der Pflicht, Abhilfe zu leisten. Im Fall des Arbeitsunfalls in Ranipet können die Arbeiter und ihre Angehörigen sich direkt über Beschwerdesysteme an die deutschen Schuhunternehmen wenden. Die deutschen Unternehmen müssen dann mit dem Zulieferer Andaal klären, wer für welchen Teil der Wiedergutmachung und der Einführung automatischer Abwasserklärung zuständig ist. Die Abhilfe für die Opfer der Menschenrechtsverletzung muss zeitnah erfolgen. Allerdings sind die Systeme momentan noch so schlecht, dass die Arbeiter*innen bei Andaal nicht einmal wissen, ob sie Leder für Schuhe in Deutschland herstellen.

Jetzt spenden

INKOTA setzt sich dafür ein, dass deutsche Unternehmen wirksame Systeme für Beschwerde und Abhilfe unter dem Lieferkettengesetz einrichten, bei denen die Abhilfe tatsächlich bei den Betroffenen ankommt. Wo das nicht passiert, gibt uns das Lieferkettengesetz neue Möglichkeiten an die Hand, das bei den Unternehmen durchzusetzen.

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, die Menschen, deren Rechte geschützt werden sollen, so zu empowern, dass sie die Systeme auch nutzen können. Der Fall in Ranipet zeigt deutlich: Ohne Unterstützung der lokalen NGOs hätten die Angehörigen und die verletzten Arbeiter kaum Wiedergutmachung erlangt und stünden auch in den Gerichtsprozessen alleine da.

Deshalb unterstützen wir in Indien die Organisationen CIVIDEP und Society for Labour and Development (SLD) dabei, Leder- und Schuharbeiter*innen in ihren Rechten zu stärken. Beide NGOs haben in den Lederindustrieorten Kanpur und Ambur Beratungszentren für Leder- und Schuharbeiter*innen aufgebaut. Hier erfahren die Arbeiter*innen, welche Arbeitsrechte ihnen überhaupt zustehen. Außerdem bekommen sie ganz konkrete Hilfe bei Rechtsverletzungen. Auch andere NGOs – zum Beispiel Thendral – werden für die Unterstützung der Lederarbeiter*innen geschult.

Bisher können sie meist nur bei kleineren, aber sehr regelmäßig vorkommenden Rechtsverletzungen wie zum Beispiel Arbeitgeberbetrug bei den Sozialversicherungsbeiträgen oder fehlenden Abfindungen bei Kündigungen Hilfe leisten.

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Wenn die Beschwerdesysteme entlang der Lieferketten endlich wirksamer werden, wollen CIVIDEP und SLD diese Systeme nutzen, damit auch andere gravierende, systematische Menschenrechtsverletzungen in Gerbereien und Schuhfabriken wie der mangelnde Gesundheitsschutz endlich enden. Dafür ist jedoch auch notwendig, dass Arbeiter*innen wissen, für welche deutschen Unternehmen sie das Leder und die Schuhe produzieren. Diese Transparenz ist die Grundlage für jede Beschwerde und jede Abhilfe, doch aus Deutschland kommt von Unternehmensseite viel zu wenig, um diese zu erreichen.

Unterdessen hat sich in Ranipet ein weiterer Grund gezeigt, warum solche Beschwerde- und Abhilfesysteme notwendig und hilfreich sein können: Die drei verletzten Arbeiter wurden von der Andaal-Gerberei entlassen. Als Abhilfe-Forderung kommt in Ranipet nun also zusätzlich die Wiedereinstellung der drei Arbeiter hinzu.

 

Anne Neumann ist Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte in der Lieferkette für Leder und Schuhe bei INKOTA. Sie betreut die INKOTA-Projektarbeit in Indien.

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