Droht noch mehr Hunger?
Der Krieg gegen die Ukraine verschärft die globale Preis- und Ernährungskrise. Es braucht koordinierte, strukturelle Antworten
Krieg verursacht Hunger – der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine sogar weltweit. Der Wegfall der Lieferungen aus den beiden Ländern lässt die Getreidepreise auf den Weltmärkten in die Höhe schnellen. Die aktuelle Krise zeigt zugleich, wie dringend nötig ein Umbau des globalen Ernährungssystems ist. Dabei gibt es Alternativen. Noch finden diese auf globaler Ebene aber zu wenig Unterstützung.
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Welternährungslage drastisch verschärft. Unmittelbar nach Kriegsbeginn warnten die Schlagzeilen der Medienhäuser im globalen Norden vor einer Knappheit an Lebensmitteln oder schürten sogar Panik vor einem Mangel, vor allem an Brot. Die New York Times etwa titelte im März: „Jetzt steht der Planet vor einer tieferen Krise: der Nahrungsmittelknappheit“. Tatsächlich würden die globalen Weizenvorräte in den Getreidelagern der exportierenden Länder gerade einmal für 45 Tage die weltweite Versorgung garantieren, bei Mais sind es sogar weniger als 30 Tage.
Fest steht: Die Krise hat enorme Auswirkungen auf das weltweite Handelssystem. Die Lebensmittelmärkte sind besonders stark davon getroffen, was sich bislang vor allem in höheren Preisen bemerkbar macht. Die Ukraine und Russland gehören zu den drei weltgrößten Exporteuren von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl. Doch nicht nur direkte Getreidelieferungen, auch die für den Anbau und die Produktion von Lebensmitteln notwendigen Ressourcen sind stark beeinträchtigt, schließlich ist Russland ein wichtiger Exporteur von Energie und liefert – gemeinsam mit Weißrussland – Düngemittel an Länder rund um den Globus. Der Export von Gütern aus Russland ist derzeit vor allem durch Sanktionen sowie aufgrund der – durch die angespannte Sicherheitslage – begrenzten Transportmöglichkeiten etwa für Frachtschiffe stark eingeschränkt.
Für die aktuelle Aussaatsaison fürchten Expert*innen eine weitere Verschärfung. Die Sanktionen verhindern derzeit, dass Russland an ausreichend Saatgut und Pestizide gelangt – Produkte, die Russland in Nichtkrisenzeiten in großen Mengen importiert. Diese Verknappungen und befürchteten Engpässe machten sich direkt auf dem Weltmarkt bemerkbar. Innerhalb von nur drei Wochen nach Beginn des Krieges ist der Preis für Winterweizen, eine der meistgehandelten Weizensorten aus den USA, um über 50 Prozent angestiegen. Auch die Indizes der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie des Internationalen Forschungsinstituts IFPRI liefern Grund zur Sorge: Die Preisanstiege sind schon jetzt vergleichbar mit den Werten der letzten Welternährungskrise in den Jahren 2007/2008 – und könnten diese sogar noch übertreffen. Damals führten die steigenden Preise zu Hungerrevolten in etwa 60 Ländern und teilweise auch blutigen Auseinandersetzungen.
Importländer werden besonders hart getroffen
Auch dieses Mal werden vor allem ärmere Staaten des globalen Südens besonders stark von der Krise betroffen sein, was bereits mit einem Blick auf die Empfängerländer der Weizenexporte deutlich wird. So bezieht etwa Eritrea 100 Prozent seines Weizens aus der Ukraine und Russland. Ähnlich ist es bei Somalia mit mehr als 90 Prozent. Laut FAO haben bislang mehr als 30 Länder im Mittleren Osten und Afrika jeweils rund ein Drittel ihres Weizens aus der Ukraine und Russland bezogen und müssen diesen nun teuer auf dem Weltmarkt einkaufen. Erschwerend kommt hinzu, dass bereits 20 Länder – darunter China, Serbien, Ungarn – ihre Getreideexporte gestoppt haben, um die eigenen Märkte zu schützen. Für Kontroversen sorgte vor allem die Ankündigung Indiens Mitte Mai, die Weizenexporte zu stoppen, um die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Aufgrund einer anhaltenden Hitzewelle fürchtet Indien deutliche Ertragseinbrüche. Während Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir diese Entscheidung scharf kritisierte, sprechen sich Hilfswerke wie Brot für die Welt dafür aus, dass gerade Länder, die stark von Hunger und Armut betroffen sind, ihre eigenen Märkte in Krisenzeiten schützen können müssen – auch wenn dies gegen die Regeln der Welthandelsorganisation verstößt.
Importierende Länder treffen die Preisanstiege besonders hart, denn nicht nur Weizen, auch Mais und Soja sind deutlich teurer geworden, was das Risiko für Hunger und Mangelernährung dramatisch erhöht. Einkommensschwache Menschen geben den Großteil ihres Geldes für Lebensmittel aus, im Mittel etwa zwei Drittel, in vielen Fällen über 80 Prozent. Steigen die Preise, wird die Ernährungssicherheit noch stärker als ohnehin schon bedroht.
Die Preisanstiege sind ein weiterer Schock für die bereits dramatische Welternährungssituation. In Folge der Coronapandemie litten von einem Jahr auf das nächste bis zu 160 Millionen Menschen zusätzlich unter akutem Hunger. Jede*r Dritte weltweit hat keinen Zugang zu einer gesunden Ernährungsweise – und das liegt nicht daran, dass zu wenig produziert wird, sondern an Armut in Folge sozialer Ungleichheit, sprich: an zu wenig Einkommen. Die Frage ist derzeit also nicht, ob es zu einer Welternährungskrise kommt, sondern wie stark sich die Krise verschärfen wird.
Die Hauptgründe für Hunger sind nach Angaben der FAO Kriege, Klimakrise, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Eine Antwort der Vereinten Nationen auf die aktuelle Krise muss die vielfältigen Krisen zusammendenken, doch bislang ist – allen Warnungen zum Trotz – eine koordinierte politische Antwort aller Staaten ausgeblieben. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, appelliert daran, nicht nur auf kurzfristige Lösungen, wie Produktionssteigerung um jeden Preis zu setzen, sondern auch die strukturellen Probleme in den Blick zu nehmen. „Nicht der unterbrochene Zugang zu chemischen Düngemitteln ist das Hauptproblem für Bauern und Bäuerinnen, sondern ihre Abhängigkeit von diesen“, so Fakhri.
Angesichts der aktuellen Situation muss es darum gehen, die Kernprobleme des globalen Ernährungssystems anzugehen, insbesondere die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die zudem eng mit der Klimakrise verwoben ist: dazu zählen die extrem energieintensive Herstellung von synthetischen Düngemitteln, für die große Mengen Erdgas benötigt werden, der Diesel für Landmaschinen und LKWs für den Transport und die Weiterverarbeitung, Kühlung und Zubereitung von Lebensmitteln. So ist es kein Wunder, dass sich Lebensmittelpreise häufig parallel zu den Rohölpreisen entwickeln: Zwischen 1997 bis 2004 und 2005 bis 2012 hat der Rohölpreis zu 50 Prozent zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln beigetragen.
Eine entscheidende Rolle zwischen Rohölpreisen auf der einen und Lebensmittelpreisen auf der anderen Seite spielen synthetische Düngemittel: So zeigt etwa eine Studie von Hinnerk Gnutzmann und Piotr Spiewanowski aus dem Jahr 2016, dass im globalen Durchschnitt eine Verdopplung von Düngemittelpreisen zu einem Lebensmittelpreisanstieg von 44 Prozent führt. Nach Ausbruch des Ukrainekriegs erreichte der Weltmarktpreis für eine Tonne Stickstoffdünger im März ein historisches Rekordhoch. Doch schon während der Coronapandemie war der Weltmarktpreis für Stickstoffdünger vor allem aufgrund von Problemen in der Lieferkette sowie gestiegenen Öl- und Gaspreisen von weniger als 250 US-Dollar pro Tonne im Januar 2020 auf mehr als 600 US-Dollar pro Tonne im Dezember 2021 geklettert. Um die Preise für gängige Düngemittel zu senken, hat etwa die kenianische Regierung Anfang April ein Subventionspaket in Höhe von 5,1 Milliarden Kenia Schilling (41,6 Millionen Euro) verkündet.
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Abhängigkeiten müssen endlich beendet werden
Die aktuelle Krise sollte dafür genutzt werden, die Abhängigkeiten von synthetischen Düngemitteln, chemischen Pestiziden und allgemeiner von fossilen Energieträgern zu verringern. Der steigende Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln hat bekanntermaßen verheerende Folgen: einen drastischen Verlust an Artenvielfalt sowie eine steigende Zahl von Krebserkrankungen, Missbildungen und ähnlich dramatischen Erkrankungen in Südamerika und Afrika. Die ausgelaugten Böden vieler Kleinbauern und -bäuerinnen sind komplett von Kunstdünger abhängig. Sie müssen sich für den Erwerb von Betriebsmitteln teilweise verschulden.
Eine Landwirtschaft ohne chemische Pestizide und synthetische Düngemittel ist durchaus möglich, wenn natürliche Kreisläufe in der Landwirtschaft berücksichtigt und unterstützt werden, indem etwa Ackerbau mit (Weide-)Tierhaltung im kleinen Maßstab kombiniert und die Bodenfruchtbarkeit durch den Anbau von Hülsenfrüchten sowie durch Zwischenfruchtfolgen und Agroforstsysteme verbessert wird. Zum Übergang in ganzheitliche, agrarökologische Systeme können auch biologische Düngemittel oder Pestizide zum Einsatz kommen. Um unnötige Transporte zu vermeiden, müssen regionale Vermarktungsstrukturen stärker gefördert werden.
Ein wichtiger Faktor spielt jedoch auch die Frage, für welche Zwecke Getreide und Ölsaaten verwendet werden. In Deutschland und der EU wird etwa knapp 60 Prozent der Getreideernte an Nutztiere verfüttert und knapp neun Prozent der deutschen Getreideernte wird zur Energieerzeugung verwendet. Die gestiegenen Energiepreise erhöhen derzeit den Druck, so wie in den USA noch mehr Getreide für die Biospriterzeugung zu verwenden.
Dabei ließe sich die gesamte europäische Bevölkerung mit agrarökologischen Anbaumethoden ernähren, wie eine Studie des Projekts Ten Years for Agroecology aus dem Jahr 2018 zeigt: Würde die Produktion von Biosprit auf null heruntergefahren, die Nahrungsmittelexporte auf Qualitätsprodukte eingeschränkt und der Konsum von tierischen Produkten um knapp die Hälfte gesenkt, könnten alle Europäer*innen ausreichend, gesund und umweltverträglich ernährt werden – und zusätzlich die Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Jahr 2010 um 40 Prozent gesenkt werden. Auch im globalen Süden verspricht Agrarökologie sichere und vielfältige Erträge und ermöglicht eine Anpassung an die Klimakrise. Dafür muss die Staatengemeinschaft deutlich mehr Mittel für die Förderung von Agrarökologie in die Hand nehmen. Jetzt!
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