Ackern gegen das Patriarchat
Agrarökologie und Feminismus sind Konzepte die eine alternative, kritische Perspektive auf Ernährung und Landwirtschaft eröffnen und uns zum Handeln anregen.
Agrarökologie als soziale Bewegung entstand Mitte der 1960er Jahre als Gegenentwurf zur Grünen Revolution und der zunehmenden Dominanz der industriellen Landwirtschaft. Insbesondere in Lateinamerika nutzen kleinbäuerliche Verbände Agrarökologie, um sich aus der Abhängigkeit von großen Agrarkonzernen zu befreien. Der Ansatz steht für eine Verschiebung von Machtverhältnissen zugunsten jener, die Lebensmittel produzieren.
Basierend auf dem Recht auf Nahrung wird mit Hilfe der Agrarökologie die Transformation von lokalen Ernährungssystemen angestrebt: Lokale Wertschöpfung, kurze Vermarktungswege sowie faire und sichere Lebensmittelproduktion sollen dies gewährleisten. Das Konzept der Agrarökologie regt dazu an, über kurzfristige Gewinne hinauszudenken und die langfristigen Auswirkungen unseres Handelns zu berücksichtigen. Die Kontrolle über den Zugang zu Land, Saatgut und Wasser sowie die Bedeutung von lokalem Wissen und traditionellen Praktiken spielen dabei eine zentrale Rolle. Im Kern ist das ein zutiefst feministisches Anliegen: Es geht um gerechte Verteilung und mehr Selbstbestimmung für alle.
Eine Besonderheit der Agrarökologie ist der soziale Blick auf landwirtschaftliche Lebensrealitäten, insbesondere auf die der Frauen, den oft unterrepräsentierten Heldinnen der Landwirtschaft. Laut Zahlen der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAO) machen Frauen 43 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte aus und tragen immens zum Anbau unserer Lebensmittel sowie zur Widerstandsfähigkeit von Gemeinschaften bei. Oft leisten sie doppelte Arbeit – auf dem Feld und im Haushalt –, jedoch ohne soziale und finanzielle Anerkennung. Frauen sind erheblicher Diskriminierung ausgesetzt, denn sie haben oft nur wenig wirtschaftliche und politische Teilhabe. Land und Vieh gehören meist den Männern. Diskriminierende Geschlechternormen verwehren Frauen und Menschen abseits des binären Geschlechtersystems häufig noch immer die nötigen Rechte und finanziellen Mittel. Als Folge davon haben sie kaum Zugang zu Krediten und daher weniger Möglichkeiten, Vieh oder Betriebsmittel wie Saatgut und Dünger zu erwerben.
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In vielen lokalen Gemeinschaften im Globalen Süden ist es traditionell die Aufgabe der Frauen, Saatgut zu bewahren, zu nutzen, zu tauschen und das Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. Die Verwendung und Erhaltung von lokal angepasstem Saatgut ist entscheidend für ein widerstandsfähiges Ernährungssystem, das dem Klimawandel standhält und gleichzeitig die Position von Frauen stärkt. Im Gegensatz zu diesem traditionellen Modell hat die industrielle Landwirtschaft zu einem Saatgutmonopol und strengen Standardisierungsregeln geführt. Einige wenige Unternehmen können so hohe Gewinne verzeichnen – für lokale Gemeinschaften bedeutet das einen großen Verlust von Resilienz und traditionellem Wissen sowie eine Entmachtung von Frauen. Agrarökologische Ansätze fördern die Rückbesinnung auf die lokale Saatgutzüchtung und Anbaumethoden, die möglichst weitgehend ohne externe Betriebsmittel auskommen. So können Frauen auf ihr eigenes Saatgut, vielfältige Nahrungsmittelproduktion und ressourcenschonende Methoden setzen. Dies ermöglicht es ihnen, sich aus dem Kreislauf von Schulden, teuren Betriebsmitteln und gesundheitsschädlichen Chemikalien zu befreien. Agrarökologie fördert die ökonomische Eigenständigkeit von Bäuerinnen. Die Ausübung vielfältiger, sinnstiftender Aufgaben wie Saatgutzüchtung und -tausch oder die Herstellung von eigenen Düngemitteln diversifiziert die Rolle von Frauen und stellt so patriarchale Strukturen innerhalb der Familie in Frage.
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Sozialer Zusammenhalt und Austausch
Frauen auf dem Land sind häufig im Alltag unsichtbar und von offiziellen Entscheidungsgremien ausgeschlossen. Um diesem Machtungleichgewicht entgegenzuwirken, fördert die Agrarökologie sichere Räume für Frauen, in denen sie sich über persönliche Erfahrungen austauschen, sich solidarisieren und gemeinsam Lösungen finden können.
Karina David, eine junge Bäuerin und Aktivistin aus Brasilien, engagiert sich bei Rede Ecovida. Gemeinsam mit 500 Familien arbeitet das Netzwerk unter anderem an geschlechtsspezifischen Themen. Auf einem von INKOTA organisierten Panel auf der diesjährigen „Biofach“ in Nürnberg erzählt sie von der schrecklichen Lage, denen einige Bäuerinnen ihres Netzwerks ausgesetzt sind: „Frauen müssen täglich gegen Männlichkeit und das Patriarchat kämpfen. Viele Frauen in unserer Gemeinschaft haben unter häuslicher Gewalt gelitten und leiden zum Teil weiterhin.“
Aus dem zu Beginn losen Austausch der Frauen entstand ein Dokument, das über die verschiedenen Arten und Auswirkungen von Missbrauch sowie das Vorgehen für Betroffene von Missbrauch informiert. „Die Resonanz, die wir nach der Veröffentlichung dieses Dokuments erhielten, war überwältigend! Wir stellten fest, dass viele Frauen keine Vorstellung davon hatten, dass sie Opfer von Missbrauch waren und annahmen, dass Missbrauch nur sexueller oder körperlicher Natur sei.“ Ein erster Erfolg für die Initiative. Seitdem hat das Netzwerk immer mehr Frauen und Männer dazu gebracht, Missbrauch in all seinen Formen zu verurteilen und die Opfer zu unterstützen.
Für eine gerechte Welt
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Hier Fördermitglied werdenDie Anerkennung und Stärkung der Stimmen von Frauen in der Landwirtschaft ist sowohl eine Frage der Gleichberechtigung als auch ein grundlegender Schritt zum Aufbau eines robusteren und nachhaltigeren Lebensmittelsystems. Frauen sollten von Anfang an in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, um inklusive Strukturen zu gestalten. So kann die Agrarökologie zu einer neuen Solidarwirtschaft mit gleichberechtigten Beziehungen und geteilten Verantwortlichkeiten führen. Feminismus und Agrarökologie repräsentieren eine Vielzahl politischer Vorschläge, insbesondere wenn sie gemeinsam betrachtet werden. Allzu oft prallen sie mit den harten Realitäten zusammen, denen wir täglich begegnen. Mit anderen Worten: Auch wenn wir uns ein Leben in einer Welt wünschen, die durch eine feministische Agrarökologie aufgebaut wird, leben wir umgeben von industrialisierter Landwirtschaft und globalisierten Lebensmitteln in einer kapitalistischen und patriarchalen Welt. Eine feministische Agrarökologie bietet die Chance, an diesem Zustand etwas zu verändern. Letztlich geht es darum Machtverhältnisse zu ändern. Agrarökologie und Feminismus sind keine Automatismen, aber zwei Konzepte, die uns dabei helfen können.
Tina Marie Jahn ist Referentin für globale Landwirtschaft und Welternährung bei INKOTA.