Das Verbindende suchen
Die gegenwärtigen bundesweiten Proteste gegen rechts sind Chance und Herausforderung zugleich für die entwicklungspolitische Szene.
Es bewegt sich etwas in Deutschland. Im ganzen Land protestieren unzählige Menschen gegen rechte Deportationsfantasien und für eine offene und solidarische Gesellschaft. Besonders wichtig ist dieser Aufbruch im Osten Deutschlands, wo rechtsextreme Gruppen und Parteien sehr großen Einfluss haben. Aktiv dabei sind auch zahlreiche Nord-Süd-Initiativen.
Seit Wochen gehen Hunderttausende auf die Straße: in Groß- und Kleinstädten, in Ost und West. Ausgelöst durch die Correctiv-Recherchen über die Deportationspläne der AfD für Geflüchtete und Migrant*innen treffen nun Menschen, die erstmalig auf einer Demonstration sind, auf Aktivist*innen, die schon lange gegen Rassismus kämpfen. Gemeinsam zeigen sie ihren Unmut über diese Menschenverachtung, ihre Ängste vor einem weiteren Verlust demokratischer Verhältnisse, aber auch ihr Bedürfnis nach einer solidarischen Gesellschaft.
Deutlich wird dabei: Diese Deportationsfantasien verstoßen gegen unsere gemeinsamen Werte von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Weltoffenheit. Auch stellen sie ein solidarisches Handeln entlang der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung in Frage. Denn rechtsextreme Parteien lehnen die Universalität der Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Gender sowie die koloniale Aufarbeitung ab. Darüber hinaus legen diese Proteste das Erstarken von autoritären, antidemokratischen und rechtsextremen Einstellungen auf lokaler Ebene offen.
Mit derartigen verschärften Kontexten müssen sich auch entwicklungspolitisch engagierte Menschen schon seit Jahren auseinandersetzen. So schreibt Heidi Bischof, Eine Welt-Promotorin des Netzwerks Demokratische Kultur in Wurzen, über ihre Arbeit im zurückliegenden Jahr: „Folgen sind unter anderem eine steigende Zustimmung zu undemokratischen Parteien, hohe Zahlen politisch motivierter Kriminalität im Landkreis Leipzig und einzelne überregional bekannte Angriffe auf Vereine und Kulturveranstaltungen. Kooperationspartner*innen sind am Rande ihrer gesundheitlichen Belastungsgrenze beziehungsweise oft darüber hinaus und fallen aus.“ Zudem häufen sich laut Bischof, die „Anfragen zur Extremismusprävention und drängen die bisher stabil gestiegene Nachfrage zu direkten entwicklungspolitischen Themen wieder in den Hintergrund.“
Ein breiter Protest könnte die Gefühlslage von Engagierten in ländlichen Regionen, die angesichts der Dominanz rechter Meinungen oft in der Defensive sind, aufhellen. Dies sollte gewürdigt und genutzt werden. Es bedeutet, mehr aus den großen Städten herauszugehen, Verbindungen und Partnerschaften mit Engagierten in ländlichen Regionen zu suchen und diese nicht nur bei ihren Protesten, sondern auch bei ihrer alltäglichen zivilgesellschaftlichen Arbeit zu unterstützen, mittel- und langfristig.
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Was ist das Verbindende an den aktuellen Protesten – auch mit Blick auf realistische, mögliche Bündnisse und die Notwendigkeit, die Mobilisierung noch lange hoch zu halten? Denn das Jahr ist jung. Zwei strategische Referenzpunkte sind sicherlich die Kommunal- und Europawahlen im Mai/Juni und die drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September 2024. Düzen Tekkal, Aktivistin von HÁWAR.help, erklärte beim Aktionstag „#WirSindDieBrandmauer“ am 3. Februar am Reichstag in Berlin vor circa 300.000 Teilnehmer*innen, dass viele Menschen in diesen Zeiten eine Sehnsucht nach dem Verbindenden haben. Auch dafür gehen sie gegenwärtig auf die Straße.
Strategisch bedeutet dies, in den nächsten Monaten den Konsens der Stärkung einer menschenrechtlich und demokratisch verfassten Gesellschaft abzusichern. Es geht darum zu zeigen, dass die Szene in der Lage ist, in mittleren und großen Städten das Vielfache an Menschen auf die öffentlichen Plätze zu bringen, als das Rechtsextreme je geschafft haben. Das „Wir sind mehr“ wirkt: nach innen und nach außen.
Für ländliche Regionen ist das Ziel höchst relevant: Hier gilt es, die rechte Hegemonie herauszufordern oder gar zu brechen, in dem nun ein Großteil der bislang Stillen und Schweigenden am Wochenende öffentlich sichtbar werden. Wie so etwas gehen kann, zeigt zum Beispiel das Aktionsbündnis „Neuruppin bleibt bunt“, das beschlossen hat, bis zu den Wahlen im Juni 2024 jeden ersten Sonntag im Monat auf die Straße zu gehen.
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Notwendig sind Aktivitäten auf vier unterschiedlichen Ebenen. Erstens: In der Nord-Süd-Szene gibt es gegenwärtig eine Bereitschaft, sich an den breiten gesellschaftlichen Protesten gegen Rassismus, Menschenverachtung und Rechtsruck zu beteiligen. Von Anfang an waren entwicklungspolitische Organisationen an der Entstehung des Projektes „Hand in Hand. #WirSindDieBrandmauer“ beteiligt. 2.000 Organisationen haben den Aufruf „Hand in Hand – jetzt solidarisch aktiv werden!“ unterzeichnet darunter viele kleine Vereine und mehrere Landesnetzwerke aus Ostdeutschland. Die Berliner und Brandenburger Landesnetzwerke, BER und VENROB, organisierten gemeinsam mit medico international und der Stiftung Nord-Süd-Brücken eine Auftaktkundgebung im Rahmen des Aktionstages. Entwicklungspolitische Vereine und Verbände müssen nun ihr spontanes Engagement verstetigen. Es muss also weiterhin eine aktive Gruppe innerhalb der Initiative „Hand-in-Hand“ geben, die sich mit eigenen Inhalten und ihren spezifischen Kompetenzen aus der Nord-Süd-Arbeit an der Strategie- und Weiterentwicklung des Bündnisses beteiligt.
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Zweitens: Erfahrungen aus anderen Kontexten zeigen, dass ein breit getragener Protest möglichst nahe zum Zeitpunkt von Wahlen in der Lage ist, rechtsextreme Parteien um einige Prozentpunkte zu drücken. Sowohl mit Blick auf die Europawahl im Juni als auch mit Blick auf die drei Landtagswahlen im September sollten daher breite, übergreifende und regionale Bündnisse im Vorfeld der Wahlen große Demonstrationen in Berlin beziehungsweise in Dresden, Erfurt und Potsdam organisieren. Gerade bei den drei Landtagswahlen können wenige Prozentpunkte am Ende einen immensen Unterschied machen. Denn klar ist: Wenn Rechtsextreme in Sachsen oder Thüringen in die Regierung kommen sollten, ist es um die Zivilgesellschaft schlecht bestellt. Und das trifft dann auch die Nord-Süd-Szene.
Drittens: Im Rahmen der bundesweiten Proteste ist es wichtig, die Verbindung und Kooperation mit regionalen Bündnissen zu suchen. Ein solches ist zum Beispiel das Bündnis Weltoffenes Thüringen, das sich bereits Mitte 2023 „in Sorge um die Demokratie in unserem Land“ gründete und in dem sich Organisationen und Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Politik, Kultur, Kirche und Bildung engagieren. Auch hier gehören Organisationen wie das Entwicklungspolitische Netzwerk Thüringen (EWNT) zu den ersten Unterzeichner*innen. Auch hier engagieren sich entwicklungspolitisch tätige und von der Stiftung Nord-Süd-Brücken geförderte Vereine wie Spirit of Football (Erfurt), goals connect (Saale-Orla-Kreis) oder ASB-Sömmerda (Sömmerda).
Derartige Bündnisse können auch längerfristig zur besseren Vernetzung beitragen. Als 2018 über 240.000 Menschen in Berlin mit #unteilbar demonstrierten und das Bündnis in den folgenden Jahren die zivilgesellschaftliche Mobilisierung voranbrachte, entstand auch der sogenannte „Solidarische Osten“ und #unteilbarMV. Beide Strukturen überdauerten das „#unteilbar-Projekt“. Noch heute tauschen sich Aktivist*innen aus Ostdeutschland dort miteinander aus. Noch heute mobilisiert #unteilbarMV zu lokalen und regionalen Aktionen gegen rechts und setzt sich für die Rechte von Geflüchteten und für eine solidarische Gesellschaft ein. Zentral dabei ist das Gesellschaftshaus STRAZE aus Greifswald, das auch in der Bildungsarbeit aktiv ist.
Viertens: Die Aktivist*innen und großen Organisationen aus Berlin sollen einfach mal darauf hören, was Bündnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wünschen oder benötigen. Ziel sollte die Unterstützung von und Kooperation mit lokalen Initiativen sein, die vor Ort, auf den Marktplätzen, in den Gemeindesälen, Rathäusern und Jugendzentren beständig die Idee einer offenen und solidarischen Gesellschaft kommunizieren.
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Dezentrale Aktivitäten in der nächsten Zeit
Genau dies plant die Stiftung Nord-Süd-Brücken gemeinsam mit dem Entwicklungspolitischen Netzwerk Sachsen (ENS), dem Entwicklungspolitischen Netzwerk Thüringen (EWNT) und dem Verbund Entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen Brandenburgs (VENROB). Die Idee ist, entwicklungspolitisch anschlussfähige Botschaften im Rahmen einer kleinen Social Media-Kampagne in die Szene in Ostdeutschland und bundesweit zu streuen. Bein einem Treffen im April in Leipzig sollen eine Erklärung erarbeitet und gleichzeitig Ideen für dezentrale, lokale Aktionen für Demokratie, Weltoffenheit und Solidarität entwickelt werden, die dann von Mai bis September umgesetzt werden – von den lokalen Vereinen mit solidarischer Unterstützung von außen.
Des Weiteren wird die Stiftung Nord-Süd-Brücken im Rahmen des WSD-Förderprogramms vom 28. Mai bis zum 3. Juni zu „Touren für eine gerechte, weltoffene und solidarische Gesellschaft“ einladen und gemeinsam mit Engagierten per Rad und Bahn durch Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern touren. Das WSD-Programm steht für „Weltoffenheit, Solidarität und Dialog“ und fördert gegenwärtig 13 Projektstellen bei kleineren Vereinen in Ostdeutschland. Im Rahmen der Tour besuchen wir acht Projektstandorte und lernen dort die Arbeit der WSD-Träger, ihre Ziele und Herausforderungen besser kennen. Mit dem Slogan „Wählt Weltoffenheit, Solidarität und Dialog (WSD)“ möchten wir ein Zeichen für demokratische Werte setzen und entlang der Strecke immer wieder Aktionen und Bilder produzieren.
Der Winter neigt sich dem Ende zu, vor uns liegt der Frühling und Sommer, das heißt Aufbruch und Hoffnung. Vielleicht können wir ja dann im Herbst die Ernte einer vitalen Zivilgesellschaft einfahren, die auch unsere Werte von Gerechtigkeit, Menschenrechtskultur und gemeinsamer globaler Verantwortung gestärkt hat. Massihambe thina: Gehen wir gemeinsam!
Andreas Rosen ist Co-Geschäftsführer der Stiftung Nord-Süd-Brücken.