Zivilgesellschaft in Politikprozessen
Eindrücke vom 51. UN-Welternährungsauschuss (CFS) in Rom
Der Welternährungsrat der Vereinten Nationen (Committee on World Food Security, CFS) tagt jährlich in Rom, in diesem Jahr vom 23. bis 27. Oktober 2023. Ausdrückliches Ziel des CFS ist es Hunger zu bekämpfen, Ernährung zu sichern und schrittweise das Recht auf angemessene Nahrung für alle zu verwirklichen. Der CFS ist international einzigartig: Über einen zivilgesellschaftlichen Mechanismus (CSIPM) haben Menschen, die am stärksten von Hunger und Mangelernährung betroffen sind, eine eigene Stimme in diesem Politikprozess. Traditionell findet der CFS über den Welternährungstag am 16. Oktober statt. Doch in diesem Jahr wurde er erstmals zeitlich verdrängt – zugunsten des „World Food Forum“. Das Forum wird von der Welternährungsorganisation (FAO) ausgerichtet und hat einen starken Fokus auf den Privatsektor. Dieser Versuch, die Bedeutung des CFS zu schwächen, zeigt ein weiteres Mal: In Krisenzeiten ist die zivilgesellschaftliche Beteiligung an politischen Prozessen umso wichtiger.
Jedes Jahr stehen beim CFS andere Schwerpunkte auf der Agenda. In diesem Jahr ging es um die Verabschiedung der UN-Leitlinien zum Thema Geschlechtergerechtigkeit, den Umgang mit Daten sowie eine erste Analyse des HLPE (High Level Panel of Experts) Berichts zu Ungleichheit im Ernährungssystem.
CFS setzt Zeichen gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung: Erster Schritt erreicht
In ihrer emotionalen Eröffnungsrede macht Luz Haro Guanga, eine Kleinbäuerin aus Ecuador, die wichtige Rolle der Frauen im Ernährungssystem deutlich:
„Rural women are the guardians of life, seeds, land - don’t fail to be general in your decisions. “
Ein Meilenstein war die Aufstellung politischer Leitlinien zu Gleichstellung der Geschlechter auf multilateraler Ebene. Sie sind Ergebnis schwerer, emotionaler Verhandlungen. Insbesondere Russland, der Vatikan und Indonesien haben in den Verhandlungen eine sehr konservative Rolle eingenommen. Daher sind die Leitlinien ein großer Kompromiss: Sie erkennen die benachteiligte Rolle von Frauen in der Landwirtschaft an und zeigen, dass Partizipationsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen für Frauen, Mädchen und Menschen mit unterschiedlichem Geschlecht und Sexualitäten unzureichend sind. Auf dem Weg zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung sind aus Sicht des CSIPM jedoch zahlreiche Punkte unbedingt zu ergänzen: Die Anerkennung von Land als Gemeingut, die Rechte indigener Völker, die Anerkennung von LGBTQIA+, die Umverteilung von unbezahlter Pflegearbeit, Agrarökologie, Intersektionalität, die Berücksichtigung von Frauen und Diversität in der Beschäftigung oder ein universeller Sozialschutz.
Dementsprechend muss die Arbeit zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Diskriminierung und zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter mit Nachdruck fortgesetzt werden.
Erstmals Leitlinien zum Umgang mit Daten in einem UN-Forum verabschiedet
Daten spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung und Verbesserung der globalen Ernährungssicherheit. Sie ermöglichen es, die Auswirkungen von Maßnahmen und Strategien zu bewerten und ggf. anzupassen. Doch Daten sind weder objektiv noch neutral. Sie sind immer von bestimmten Annahmen und Werten geprägt und können manipuliert werden. So können sie bestimmten Akteuren nutzen und anderen schaden. Sei es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen. Die Nutzung von Daten wird deshalb zunehmend zu einem umkämpften Terrain im neoliberalen Wirtschaftssystem: Mächtige Interessengruppen kämpfen um die Kontrolle und den Einfluss auf diese Ressource. Erstmals wurde diese Thematik auf dem diesjährigen Forum diskutiert. In den Verhandlungen ist es dem CSIPM gelungen die Definition von Daten zu erweitern: Neben digitalen Daten werden auch qualitative und quantitative Informationen sowie indigene und traditionelle Datenerfassungsmethoden eingeschlossen. Risiken wie Überwachung, Verletzung der Privatsphäre und die monopolistische Kontrolle von geistigem Eigentum kamen dagegen zu kurz. Aus zivilgesellschaftlicher Sicht ist es unerlässlich, dass die Erhebung und Nutzung von Daten demokratisch kontrolliert werden und Technologien unter Aufsicht der Anwender*innen stehen. Eine Regulierung auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ist dringend notwendig, um die Marktkonzentration einzuschränken. Der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen, die Souveränität der Gemeinschaft und die Menschenrechte sind die Grundlage von Datengerechtigkeit.
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Ungleichheit ist vielschichtig
Das dritte große Thema des diesjährigen Forums beschäftigt sich mit dem neuen Bericht des Expert*innen-Gremiums HLPE (High Level Panel of Experts). In diesem Bericht werden Ungleichheiten in Lebensmittelsystemen mit ihren tiefgreifenden, systemischen Ursachen aus einem intersektionalen, interterritorialen und generationsübergreifendem Blick analysiert. Die Expert*innen schlagen einen Fahrplan für eine gleichstellungsorientierte Politikgestaltung vor: Durch Anerkennung der Geschichte von Ungleichheit in verschiedenen Kontexten, durch Repräsentation marginalisierter Gruppen und Umverteilung von Ressourcen und Opportunitäten. Durch diesen Ansatz werden Machtungleichgewichte im Bericht deutlich anerkannt und die Stärkung der Handlungsmacht durch die Anerkennung und Vertretung marginalisierter Gruppen betont: Betroffene Menschen müssen in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen und an Politikprozessen mitzuwirken. Hunger ist kein technisches, sondern ein politisches Problem. Damit erkennt der HLPE-Bericht auch die Dringlichkeit von zivilgesellschaftlicher Beteiligung in Politikprozessen an.
Zero Hunger: Nur erreichbar durch die Einbindung von Zivilgesellschaft
Die Diskussionen und Ergebnisse des diesjährigen CFS zeigen deutlich, wie wichtig zivilgesellschaftliche Beteiligung an Politikprozessen ist. Die Verhandlungen der Leitlinien hätten ohne eine starke zivilgesellschaftliche Stimme eine andere Richtung eingeschlagen oder wären vielleicht gar nicht zu einem Abschluss gekommen. Nur wenn auch tatsächlich Betroffenen eine Stimme gegeben wird und Menschenrechte Ausgangspunkt für Verhandlungen sind kann das Recht auf angemessene Nahrung für alle verwirklicht werden. In diesem Sinne ist es umso wichtiger den CFS in seiner inklusiven Form zu stärken.